Heidelberger Schlossfestspiele

Darum ist das Musical "Anatevka" so besonders

Sensibel und mit Leichtigkeit erzählt - Tevje bricht mit der Tradition

10.07.2019 UPDATE: 11.07.2019 06:00 Uhr 1 Minute, 54 Sekunden

Hier verspricht Milchmann Tevje (M.) gemäß der Tradition seine Tochter Zeitel dem Fleischer Lazar Wolf. Darauf trinken beide. Doch der Vater von fünf Kindern hat die Rechnung ohne seinen aufmüpfigen Nachwuchs gemacht. Foto: Sebastian Bühler

Von Benjamin Auber

Heidelberg. Tevje hat es endlich geschafft. Gegen Ende des ersten Akts blickt der jüdische Milchmann, der glänzend von Joachim Goltz interpretiert wird, aus der fiktiven Stadt Anatevka erstmals über den Tellerrand. Der leidende Vater von fünf Töchtern erlaubt seiner Ältesten Zeitel (charmant: Manja Stein) den armen Schreiner Mottel (Markus Schöttl) zu heiraten, obwohl Tevje seine Tochter schon dem hölzernen Fleischer Lazar Wolf (Wilfried Staber) versprochen hat ("Wunder, ein Wunder"). Ab diesem Moment nimmt das Musical, das bei den Heidelberger Schlossfestspielen in die zweite Saison geht und erstmals vor 55 Jahren am New Yorker Broadway aufgeführt wurde, so richtig Fahrt auf.

Ach Tevje, was musst du noch alles ertragen? Eigentlich sollte Heiratsvermittlerin Jente (Anjara Bartz) für alle Töchter geeignete Ehemänner finden, doch die denken gar nicht daran. Die immer wieder in Reprisen besungene "Tradition" ist in Gefahr. Hodel - Annika Mendrala versteht es zauberhaft die kindliche Verwunderbarkeit der Rolle herauszukitzeln - verliebt sich in Perschik (Manuel Heuser) bei einem Tanz abseitig der Bühne. Als schließlich noch Chava (Lena Weiss) eine Auge auf den russischen Christen Fedja (Alexei C. Bernard) geworfen hat und zunehmend Pogrome drohen, ist die heile Welt in Anatevka endgültig vorbei.

Dem Heidelberger Ensemble gelingt es prächtig, das quirlige jüdische Leben in der Siedlung des russischen Kaiserreichs um 1905 zu verdeutlichen. Vor allem die beeindruckende Kulisse des Schlosses macht den besonderen Reiz aus, wenn der berühmte Fiedler auf dem Dach (Mark Johnston) hoch oben vom Balkon wortlos fiedelt und dem Zuschauer damit genug Raum für Interpretation lässt. Auch die wandelbare Holz-Konstruktion in Ei-Form, die auffällig ausgeleuchtet wird, eignet sich hervorragend, um das zünftige Wirtshaus oder die Hochzeit von Zeitel und Mottel ideal in Szene zu setzen.

Regisseurin Pascale-Sabine Chevroton überzeugt vor allem mit eingängigen Bildern, die "Anatevka" besonders machen. Wenn Oma Zeitel an Stecken befestigt übergroß aus der Gruft steigt und von Zeitel, Hodel und Chava geschickt durch die Nacht geleitet wird, um Mutter Golde (Carolyn Frank) von der Verlobung zu überzeugen. Ebenso wenn der Tod naht und Geister im Dunklen über die Bühne schwirren. Elektrisierend.

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Neben dem Philharmonischen Orchester Heidelberg, das sowohl die leisen Töne, als auch die kräftigen Zwischenspiele für die Tanzeinlagen beherrscht, steht und fällt das Stück vor allem mit Tevje. Und so ist es Joachim Goltz, der der tragischen Figur des Milchmanns, den nötigen Tiefgang, aber auch die verspielte Leichtigkeit verleiht, um den Galgenhumor einer schweren Zeit einzufangen.

Von einprägsamen Melodien ist "Anatevka" nicht gerade gesegnet. In Erinnerung bleibt jedoch "Wenn ich reich wär", als Tevje seine Wünsche wehklagend besingt. Die Stärke dieses Klassikers liegt in der ruhigen Erzählweise und eben nicht in der zwanghaften Orchestrierung jeder einzelnen Szene, sondern von stimmiger Begleitmusik. Wohltuend. Vor dem Hintergrund, dass Pogrome die jüdische Bevölkerung zunehmend malträtieren, schafft es das Ensemble mit Nachdruck, den Bogen von ausgelassener Heiterkeit bis zur dramatischen Zwangsumsiedlung zu spannen.

Ort des Geschehens

Info: Für den 21., 26. und 27. Juli sind für "Anatevka" noch Sitzplatzkarten erhältlich, Stehplätze noch für alle anderen Vorstellungen bis 3. August.

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