Plus Heidelberg

Warum der Ukraine-Krieg Jan Assmann zufolge humane Werte festigt

Der tiefste Einschnitt der Geschichte: Der Friedenspreisträger sprach in der Neuen Universität über Karl Jaspers’ "Weltphilosophie" in Zeiten des Krieges.

19.07.2022 UPDATE: 19.07.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 36 Sekunden
Jan Assmann. Foto: S. Stein

Von Heribert Vogt

Heidelberg. Um nicht weniger als die "Achse der Weltgeschichte" ging es in den Ausführungen des Friedenspreisträgers Jan Assmann bei Dieter Borchmeyers "Heidelberger Vorträgen zur Kulturtheorie". Per Zoom aus Konstanz zugeschaltet, sprach der Kulturwissenschaftler im gut besuchten Hörsaal 14 der Neuen Universität über das Thema "Achsenzeit – eine ‚Weltphilosophie‘ (Karl Jaspers) inmitten des Kriegs". Ausgangspunkt war Goethes poetische Orientreise ab 1814, deren Ergebnisse er 1819 als "West-östlicher Divan" veröffentlicht hatte. Auf eine solche "Morgenlandfahrt" folgten ihm später andere.

Als ab den 1920er Jahren der Nationalsozialismus "das geistige Leben zu ersticken begann", verspürten viele Intellektuelle die Sehnsucht nach Weltkultur: Sie wanderten in geistiger und/oder geographischer Hinsicht aus. So machte sich Hermann Hesse 1930 im Tessin an den Roman "Das Glasperlenspiel". Thomas Mann, 1933 ausgewandert, hatte 1926 die Josephsromane begonnen. Und Karl Jaspers, seit 1937 mit Lehr- und Publikationsverbot belegt, ging in die innere Emigration und stieß ab 1938 auf die "Achsenzeit".

Von den Dreien hatte es Jaspers am schwersten. Während Hesse und Mann emigrierten, lebte er mit seiner jüdischen Frau Gertrud in einem Haus in der Heidelberger Plöck. Ständig in Lebensgefahr schwebend, hatten beide Giftampullen mit Zyankali immer in Reichweite. Ihrer Deportation entgingen sie nur knapp. In allen drei Fällen geht es um Auswanderung aus dem bedrohlichen Gefängnis der Gegenwart. Hesse begibt sich mit seinem Roman auf die "Morgenlandfahrt". Thomas Mann steigt in den Brunnen der Vergangenheit, in die orientalisch-ägyptisch-alttestamentliche Welt des 14. Jahrhunderts v. Chr. Und Jaspers versetzt sich nach China, er liest Konfuzius.

Unter dem Nazi-Terror erfuhr Jaspers’ Interesse an der Geschichte eine Wandlung: In China spürte er einen gemeinsamen Ursprung des Menschseins. Seinen kosmopolitischen Humanismus nennt er "Weltphilosophie". Bei der "Achsenzeit" geht es um die These der ungefähren Gleichzeitigkeit gleichgerichteter geistiger Bewegungen zwischen 800 und 200 v. Chr. in Ost wie West. Assmann: "Jaspers hat in seiner Weltphilosophie die Achse der Weltgeschichte entdeckt."

Auch interessant
Heidelberg: Gelehrter Assmann findet Fridays for Future "großartig"

Es ist die Achse, auf die alles Vorherige zuläuft und alles Spätere zurückgreift. Sie ist dort, "wo geboren wurde, was seitdem der Mensch sein kann". Es ist "der tiefste Einschnitt der Geschichte": Um 500 v. Chr. bildete sich der Mensch, mit dem wir bis heute leben. Damals entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, in Indien lebte Buddha, und Griechenland sah Homer, die Philosophen und die Tragiker. Annähernd gleichzeitig, jedoch unabhängig voneinander fanden diese Entwicklungen statt. "Das Neue dieses Zeitalters war", so Assmann, "dass der Mensch sich des Seins im Ganzen – seiner selbst und seiner Grenzen – bewusst wurde".

Zugleich verfolgte er die höchsten Ziele. So reagierte Jaspers gedanklich auf die Bedrohungen durch den Nationalsozialismus, der den radikalsten Abbruch der zwischenmenschlichen Kommunikation bedeutete, die für Jaspers jedoch von zentraler Bedeutung ist. Sie scheint auch gefährdet in Trumps USA, Johnsons England, Orbáns Ungarn, Erdogans Türkei und vor allem in Putins Russland. Jaspers’ "Weltphilosophie" bedeutete auch die Überwindung des eurozentrischen Weltbilds.

Europa ist nicht mehr Ursprung und Maßstab der modernen Welt, sondern Teil eines weltumspannenden Durchbruchs zu einem neuen Welt-, Menschen- und Gottesbild. Das nahm die aktuellen postkolonialen Debatten etwa in Bezug auf das Berliner Humboldt Forum vorweg. Hesse hat sich im "Glasperlenspiel" einen "anachronen Raum transhistorischer Gleichzeitigkeit" geschaffen, in den man aus der Gegenwart jederzeit übertreten kann. Auch Thomas Manns Josephsromane bedeuten einen Ausbruch aus dem europäischen Kulturkreis.

Der gemeinsame Nenner in allen drei Fällen ist die Ersetzung von Hass, Feindschaft und Gewalt durch Menschlichkeit. Interkulturelle Bildung, kulturübergreifendes Verstehen und Kommunizieren sowie ein neuer globaler Humanismus sind Aspekte von Weltkultur. Jaspers’ Durchbruch ist ein Säkularisat der Offenbarung, die in der christlichen Tradition die Achse der Weltgeschichte bildet. Er sucht nach einer allen Kulturen gemeinsamen Achse und findet sie in den weltweiten geistigen Durchbrüchen um 500 v. Christus.

Am konsequentesten betrieb Thomas Mann Weltpolitik. Seine These der Zehn Gebote hat sich in der Erklärung der Menschenrechte 1948 und in der Gründung der Uno 1945 niedergeschlagen, auch in der europäischen Einigung. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die Architektur einer solchen Friedensordnung nun 77 Jahre gehalten.

Aber auch Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine hat nicht alles zerstört. Denn ein Gesetz wird nicht dadurch ungültig, dass gegen es verstoßen wird. Die humanen Werte sind durch den Krieg eher noch gefestigt worden: "Jetzt erst wissen wir, was Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden bedeuten."

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.