Sophokles‘ Tragödie "Ödipus" am Theater
Unsichtbares Licht hinter der Finsternis - Das antike Drama in den Zeiten der Corona-Pandemie

Von Heribert Vogt
Heidelberg. Götter, Seher und Orakel auf der einen Seite – Virologen, Epidemiologen und Mathematiker auf der anderen. Dass der erste Mix zur Schicksalbewältigung taugen soll, fällt heutzutage schwer zu glauben. Aber auch die zweite Mischung scheint keineswegs unproblematisch. In der antiken Tragödie "Ödipus" des Sophokles scheinen die übermenschlichen Mächte sogar zur Katastrophe beizutragen. Aber kann denn die moderne Wissenschaft von allen Übeln erlösen? Mit Sicherheit nicht: Der Mensch wird immer ein Wesen mit Widersprüchen und Grenzen bleiben. Seine elementare Gefährdung ist schon seit 2500 Jahren in dem "Ödipus"-Drama bezeugt, wie jetzt bei dessen Premiere im Heidelberger Theater eindrucksvoll vor Augen geführt wurde.
Blutüberströmt ist das Gesicht des vom Schicksal vernichtend geschlagenen Protagonisten am Ende von Alexander Charims Inszenierung. Nachdem sein ganzes Leben ein einziger Irrweg war, sieht er geblendet schließlich gar nichts mehr. Dabei sollte er doch im antiken Theben machtvoll die dort wütende Pest niederringen. Da liegt die Analogie zur heutigen Corona-Pandemie auf der Hand. Aber trennen Gegenwart und Geschichte wirklich Welten?
Ödipus scheitert nicht nur im Kampf gegen die Seuche, sondern geht zudem als Mensch an seinen fatalen Verstrickungen zugrunde. Aber auch die Corona-Epidemie ist keineswegs im Griff und noch viel weniger besiegt. Wird sie zu noch größerem Unheil führen? Ödipus jedenfalls verfällt der Finsternis. Jedoch muss es hinter ihr noch unsichtbares Licht geben. Denn obwohl der Worst Case bereits seit Jahrtausenden beschrieben wird, haben die Menschen die Hoffnung bis heute nicht verloren.
Im Alten Saal des Theaters blicken die Zuschauer mit Corona-Abstand auf ein großes Anti-Puppenhaus mit nahezu leeren Zimmern auf zwei Ebenen (Bühnenbild: Ivan Bazak). Darin ist nichts putzig, sondern alles nackt und roh; einmal hört man einen Presslufthammer (Sound-design: Friedrich Stockmeier). Und in den unbehausten Räumen sind die Bewohner weitgehend isoliert – wie im kürzlichen Lockdown, aber auch zur Sicherheit der Schauspieler. Gleichzeitig fragt man sich, wie die Menschen unter diesen Umständen eigentlich wieder zu einem gedeihlichen Miteinander finden sollen.
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Darsteller Friedrich Wit-te spielt einen spannungsreichen, vielschichtigen Ödi-pus, der anfangs an der Spitze Thebens steht, aber dessen Fallhöhe dann umso größer ist. Dieser Absturz geschieht in Etappen. Nach ersten Unsicherheiten wird Ödipus direkt bescheinigt: "Du bist die Pest!" Allmählich steigt in ihm ein "furchtbarer Verdacht" auf, und schließlich erlischt "der Glauben an die Götter". Der Unglückliche fällt quasi in Zeitlupe. Er wehrt sich gegen das unaufhaltsame Zuziehen der ihm gelegten Schlinge, schöpft tänzelnd Hoffnung, sucht nach Auswegen, will aber seine Wahrheitssuche bis zur bitteren Neige fortsetzen. Was er immer vermeiden wollte, ist längst eingetreten: Er hat – unwissentlich – seinen Vater getötet und mit seiner Mutter Kinder gezeugt.
Aber Ödipus‘ unheilvolle Lebensodyssee bleibt bei aller Krassheit doch auch Teil der Schicksalsgemeinschaft mit den ihn umgebenden und in das Geschehen involvierten Menschen. Das zeigt sich häufig in den berichtenden Chor-Passagen, bei denen die Titelfigur zum normalen Mitsprecher wird – neben den anderen hin- und hergerissenen Gestalten: Kreon (Marco Albrecht), Iokaste/Teiresias (Sheila Eckhardt), Priester (Jonah Moritz Quast) und Bote (Neuzugang: Leon Maria Spiegelberg). Aber man ahnt dunkel, dass auch wir Heutigen zu dieser Schicksalsgemeinschaft gehören. Denn die Akteure treten in aktuellem Outfit auf (Kostüme: Aurel Lenfert).
Insgesamt ein intensiver Abend, der fundamentale Fragen Sein und Schuld des Menschen aufwirft. Einmal grundsätzlich, dann aber auch im Angesicht einer existenziellen Bedrohung. Das gelang mit starken Schauspielerleistungen, insbesondere Friedrich Wittes in der Titelrolle. Mit ganz eigener Körpersprache durchschreitet er die Irrungen und Wirrung des Ödipus. Und selbst in seinen geblendeten Augen scheint noch ein Funken Hoffnung weiter zu glimmen. – Viel Applaus aus vollem Herzen.
Info: Nächste Termine: 13., 14., 16. Oktober; www.theaterheidelberg.de



