Schön schräg: Die Hexe wird in „Hänsel und Gretel“ traditionell von einem Mann gesungen, hier von Raphael Wittmer. Foto: NTM
Von Jesper Klein
Mannheim. Hänsel und Gretel. Man hätte sich passend zum ersten Schnee des Jahres eigentlich keinen besseren Tag aussuchen können für dieses beliebte Advents-Opern-Märchen aus der Feder von Engelbert Humperdinck. Doch der Schnee ist schon fast wieder geschmolzen – und natürlich hat die Sache einen Haken. Es ist auch verdächtig leer im Mannheimer Nationaltheater. Statt der geplanten Premiere am Freitagabend, aus bekannten Gründen abgesagt, geht hier an diesem Dienstag nur eine letzte Probe über die Bühne. Die wird vom Rhein-Neckar Fernsehen aufgezeichnet und am 12. und 13. Dezember ausstrahlt. Fernsehpremiere heißt das dann. Notgedrungen.
Als vierte White-Wall-Oper geplant, rückt erneut die namensgebende weiße Wand, an die Projektionen geworfen werden, in den Mittelpunkt der Inszenierung. Regisseurin Victoria Stevens verortet Humperdincks "Märchenspiel in drei Bildern" irgendwo zwischen Räumungsklage und verwunschenem Wald, in dem sich Hänsel und Gretel aus einer Eiscreme-Truck-Maschine mit Cornettos mästen lassen. Der Truck lässt sich auf Kindheitserlebnisse der südafrikanischen Regisseurin zurückführen, liest man im Programmheft. Die Travestie-Hexe, bei Humperdinck traditionell von einem Mann gesungen, trägt Waffel im Haar. Konsequent.
So weit, so wild. Besonders ansehnlich ist dieses moderne Märchen mit spätromantischem Soundtrack im zweiten Akt. Der mystische Wald irrlichtert bühnenfüllend, das Geschwisterpaar wandelt hinter dem Schleier des illuminierten Vorhangs. Die Effektmaschinerie (Video: Judith Selenko, Animation: Bernhard Hochenauer) rattert den ganzen Abend, die Charaktere bleiben dafür holzschnittartig: Hänsel ein sprayender Skaterjunge, Gretel träumt vom Fliegen. Aus dem Motto "Wenn die Not auf’s Höchste steigt, Gott, der Herr, die Hand uns reicht" entwickelt Victoria Stevens eine Geschichte über den Mangel, bei der man nicht recht weiß, was man mit ihr anfangen soll. Am Ende ist jedenfalls alles gut und die Hexe tot.
Das Nationaltheaterorchester unter Alexander Soddy orchestriert das Bühnengeschehen mit der Corona-kompatiblen Kammermusikfassung von Nathan Lofton und steuert aus dem Graben verlässlich wohlbekanntes Volksliedgut bei. Immerhin musste man hier nicht viel kürzen. Im Ensemble singen Amelia Scicolone (Gretel) und Jelena Kordić (Hänsel als Hosenrolle) die Titelpartien, an ihrer Seite sind unter anderem Thomas Jesatko, Marie-Belle Sandis und Raphael Wittmer zu hören. Letztlich wird der Truck zum Traummobil und der Kinderchor singt hinter Plexiglas. Nach 90 Minuten landen wir wieder in der Realität. Märchen aus, alle gehen brav wieder nach Haus.
Info: Die Aufzeichnung wird am 12. Dezember (16 Uhr) und 13. Dezember (14 Uhr) im Rhein-Neckar Fernsehen ausgestrahlt.