Beschuldigen sich gegenseitig, am Untergang der Titanic schuld zu sein: Ingenieur Thomas Andrews (Greg Castiglioni) zeigt auf Direktor J. Bruce Ismay (Simon Green), der schneller in New York sein wollte. Kapitän Edward Smith (Philip Rham) stimmt Andrews zu. Foto: S. Rylander
Von Benjamin Auber
Mannheim. Um die Titanic, die als schwimmendes Luxushotel vor 107 Jahren auf dem Weg von Southampton nach New York in den Tiefen des Atlantiks verschwand, ranken sich noch immer viele Mythen. Die faszinierenden Vorgänge an Bord greift das mit dem Tony-Award prämierte Stück sehr feinsinnig auf. Derzeit gastiert es am Mannheimer Nationaltheater. Zahlreichen Gaststars vom Londoner West End geben der englischsprachigen Inszenierung einen erstaunlichen Tiefgang, gepaart mit wunderbaren Melodien aus der Feder von Maury Yeston, die einem partout nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen.
Und ja, der Untergang der Titanic funktioniert auch ohne einen schmachtenden Leonardo Di Caprio, der sich mit letzten Kräften an ein Wrackteil krallt. Gut, dass das Musical seinen eigenen Weg geht und den Film zu großen Teilen außen vor lässt. Die Kunst des Stückes liegt darin, dass es ohne wirkliche Hauptdarsteller auskommt und es diese eine Liebesgeschichte gar nicht gibt, sondern über alle Schichten und Altersklassen hinweg viele kleine bewegende Schicksale, wenn die Männer die Rettungsboote mit ihren Frauen ziehen lassen müssen.
Eine Tour-Produktion besticht nicht unbedingt mit ausgefallenen Bühnen-Elementen - auch hier nicht. Die Reling wird nur beim Untergang einmal schräg gestellt, das verfehlt seine Wirkung aber nicht. Es sind die geschickten Lichteffekte, die einen auf die Titanic einladen. Der in Bronze getauchte Heizraum, das Dinner der ersten Klasse im hellen Licht oder der Sternenhimmel, der sich schließlich verdunkelt, begleitet das Stück auf subtile Weise und richtet den Blick auf die Leistungen der 25 stimmgewaltigen Darsteller, die ihr Handwerk mit intensivem Spiel großartig verstehen.
Wie Heizer Frederick Barrett (Niall Sheehy), der sich nach seiner Darlene im heimischen London sehnt und ihr eine Nachricht über den Funker Harold Bride (Ronan Burns) schickt (sehr intim: "The Proposal/The Night Was Alive"). Die ganze Bandbreite des Genres zeigt sich auch bei "Lady’s Maid", als die dritte Klasse im Unterdeck von Amerika träumt. Rotschopf Lucie-Mae Sumner als Kate McGowen singt sich hier sehnsüchtig in den Vordergrund - besonders die Streicher der sechsköpfigen Band schmachten dabei stimmungsvoll.
Auch die klassischen Ensemble-Stücke reißen mit, wenn die Titanic in See sticht ("Godspeed Titanic"), der Eisberg in Sichtweite ist ("Autumn") oder tänzerisch, wenn ausgelassen Ragtime auf Deck getanzt wird. Natürlich gibt es auch vereinzelt diese typischen Musical-Nummern, die einem belanglos die Augen rollen lassen ("Still") - das ist aber nicht das beherrschende Thema der Produktion.
Erfreulich, dass der Fokus auf die geschichtliche Erzählung gelegt wird, ohne Übertreibungen. Der Konflikt zwischen Direktor und der Crew, die Titanic immer schneller werden zu lassen, entwickelt sich zu einem spannenden Katz-und-Maus-Spiel. Auch der Klassenkonflikt, sichtbar bei Alice Beane (auffallend: Wendy Ferguson), die als Frau eines Eisenwarenhändler unbedingt zur ersten Klassen gehören will, zieht sich gekonnt wie ein roter Faden durch den Abend.
Der kraftvolle Epilog, der die Überlebenden vor einer riesigen Gedenktafel zeigt und von den Kampf um die Rettungsboote erzählen lässt, wirkt nach - ziemlich ungewöhnlich für ein Musical, rundet die Inszenierung aber glaubhaft ab. "Titanic" ist ein kleiner musikalischer Schatz, den Musical-Interessierte unbedingt heben sollten.
Info: In allen RNZ-Geschäftsstellen gibt es für Freitag (19.30 Uhr), Samstag (15/19.30 Uhr) und Sonntag (14.30/19 Uhr) noch Tickets.