Ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen von Venedig und nominiert für zehn Oscars: Strand-Szene aus der mexikanischen Produktion "Roma". Foto: Netflix
Von Wolfgang Nierlin
Heidelberg. Das geräumige Haus mit seinen Winkeln und Treppen liegt im titelgebenden Roma, einem vornehmen Stadtteil von Mexiko-Stadt. Seine lange, durch ein Tor abschließbare Zufahrt dient zugleich als Eingangshalle, Innenhof und Garage. Wenn zu Beginn des Films ein Dienstmädchen die von Hundekot verdreckten Fliesen dieses Eingangsbereiches putzt, spiegelt sich im Putzwasser für einen Augenblick ein vorüberziehendes Flugzeug.
Diese Bewegung am Himmel, die sich noch oft wiederholt, wirkt in ihrem Kontrast zur Enge des fortan gezeigten Alltags wie ein fernes, uneinlösbares Versprechen. Cleos (Yalitza Aparicio) Dienst im Haushalt einer großbürgerlichen Familie ist von morgens bis abends von Arbeit bestimmt. Sie putzt, spült, wäscht und kümmert sich um die vier kleinen Kinder einer Arzt-Familie, zu der noch eine Oma und ein Hund gehören. Cleo ist mit ihrem Dienst nicht allein, sondern hat noch eine Kollegin. Wie in den Häusern der Nachbarschaft stammen sie alle aus der indigenen Bevölkerung.
Doch Alfonso Cuarón interessiert sich in seinem preisgekrönten Film "Roma", der im Jahre 1971 spielt, weniger für soziale Unterschiede und politische Hintergründe. Sein auf persönlichen Erinnerungen basierendes Porträt eines Dienstmädchens, dessen sorgsames, aufopferungsvolles Tun einen geordneten, abgeschirmten Lebensraum schafft, beschreibt eher ein ambivalentes Inseldasein inmitten unruhiger Zeitläufte.
Cleo ist ganz selbstverständlich in die Familie integriert und steht doch außerhalb von ihr. Diese Gleichzeitigkeit inszeniert Cuarón in langen, raumtiefen Plansequenzen, in denen Vorder- und Hintergrund, Figurenporträt und gesellschaftliche Begleitumstände in einen permanenten Dialog treten. Seltsam abgerückt und zugleich von klarer, heller Transparenz erzeugen die Schwarzweißbilder ein wimmelndes Nebeneinander. Dieses besitzt, verstärkt durch das von Schwenks und Travellings getragene Drehen in Realzeit, in den besten Momenten eine unglaubliche Unmittelbarkeit und Intensität.
"Roma" ist auch eine Hommage an Cleos innere Stärke. Als sie schwanger wird, schleichen sich dramatische Züge in den ruhigen Erzählfluss des Films, der im Übrigen auf Filmmusik verzichtet. Der fremde Außenraum gewinnt an Dynamik und überlagert zunehmend das gleichförmige Familienleben. Hagelkörner und ein Erdbeben, ein Waldbrand und permanente Staus sind die unheilvollen Vorboten gewalttätiger Straßenunruhen, in die Cleo in einem entscheidenden Moment ihres Lebens hineingerät.
Parallel dazu verlässt der meist abwesende Familienvater seine Frau und die Kinder. Einmal wird die Señora Teresa (Marina de Tavira) zu der ebenfalls auf sich selbst gestellten Cleo sagen: "Wir sind immer allein." Der Zusammenhalt und persönliche innere Ausgleich der Verlassenen wird schließlich durch eine dramatische Rettungsaktion am Meer verstärkt. Das Bild, das Rettende und Gerettete, als Gruppe arrangiert, in Schutz und Geborgenheit vereint, trägt Züge des Heiligen.
Info: Heidelberg, Karlstorkino, Originalton mit Untertiteln, 10., 23. und 25. Februar.