Ein Helm für die Raserei durch die Finsternis: Szene aus dem Stückemarkt-Gastspiel „Die Tonight, Live Forever“. Foto: K. Fersterer
Von Franz Schneider
Heidelberg. Sivan Ben Yishai kommt aus Tel Aviv, lebt seit 2012 in Berlin und schreibt Theaterstücke auf Englisch. In der Spielzeit 2019/20 war sie Hausautorin des Nationaltheaters Mannheim; und in diesem Jahr ist sie für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert. Eines ihrer markantesten Werke heißt programmatisch und plakativ "Die Tonight, Live Forever oder Das Prinzip Nosferatu". Letzterer bezieht sich auf Murnaus weltberühmten Stummfilm, der vor 100 Jahren gedreht wurde. Ein Klassiker des Vampir-Films.
Das Staatstheater Nürnberg gastierte nun mit Michael Königsteins Inszenierung des Stücks beim Heidelberger Stückemarkt – in der Hoffnung auf den "Nachspielpreis", der an diesem Sonntag vergeben werden soll. Unweigerlich führt uns das Bühnenbild in ein völlig heruntergekommenes Kino. Auf der faltigen Leinwand sind Szenen des Murnau-Fils zu sehen, jede Einstellung ist ikonografisch. Aber es gibt auch Menschen davor. Eine junge Frau etwa, die ihrer dominanten Mutter wegen eine Therapie macht und sich ständig überfordert fühlt. Zugleich setzt sie sich unter Entspannungszwang. Dann plötzlich dieses Stechen in der Brust – und klar, das muss ein Tumor sein. Der könnte alle ihre Probleme beantworten, ausgerechnet er.
Hinter dem Kinosessel ein bärtiger junger Mann in Sakko und Cordhose, der sich krümmt und dann aufrichtet. Ein Immobilienmakler sei er – und schwul. Keine gute Kombination ihm zufolge, denn die Kunden im französischen Rennes seien homophob, wollen leben ohne einen wie ihn, auch wenn er der Makler ist. Doch keine Oberfläche ohne Unterseite. Am nächsten Morgen soll er ein ernstes Gespräch mit dem Chef führen. Es könnte die Kündigung bedeuten. Davor vielleicht noch spontane Sexkontakte via App? So lässt sich der Makler treiben – hinein in die Katakomben von Paris.
Dem Dritten im Bunde wird nachts ein goldener Motorradhelm entgegengehalten, den er doch aufsetzen möge, damit die Raserei durch die Finsternis beginnen möge. Rein äußerlich gleicht er am ehesten einem Murnau-Vampir, die beiden anderen haben ihn dafür umso mehr verinnerlicht. Dort wütet er umso heftiger. Denn der Vampir ist nicht nur ein Wesen im langen Schwarzen mit rot glänzenden Zähnen, er steht mit Biss für die Selbstzerstörung im Kapitalismus, einst bei "Nosferatu", so auch heute. Nur heißt der Vampir jetzt Nos.fe.ra.tu., wie man hinten auf der Leinwand lesen kann.
Davor erlebten Zuschauerinnen und Zuschauer Energie und Hysterie, kaum aber Dämonie. Die Themenfelder wuchern. In Teil zwei wabert viel roter Trockeneis-Nebel. Dann müssen sich Anna Klimovitskaya, Yascha Finn Nolting und Sascha Tuxhorn in pinke Fleischkostüme mit Arterien und Venen drauf zwängen. Sie sehen aus, als wären sie geradewegs den "Körperwelten" Gunther von Hagens entflohen. Als sie dann zumindest ihre Köpfe wieder befreien dürfen, jubelt es um sie herum, denn wer im Zwinger 3 des Heidelberger Theaters dabei war, war beeindruckt.