Von Lars Castellucci
Heidelberg. "Glück ist Hilfe": Dieser Satz stammt von Bertolt Brecht, doch Hilde Domin wurde nicht müde, ihn zu zitieren. Denn Hilfe hatte sie erfahren, immer wieder, auf dem Weg ins Exil, der sie bis in die Dominikanische Republik führen sollte, woher sie dann ihren Namen entlehnte. Und weil diese Hilfe empfangen werden durfte, ohne dass jemand sie geschuldet hätte oder Leistung oder Verdienste im Spiel gewesen wären, war es eben Glück. Kein Glück, das vom Himmel fällt, sondern Glück aus Mitmenschlichkeit.
15 Jahre ist Hilde Domin nun tot. Vieles, was man von ihr lesen kann, ist wie für die heutige Zeit geschrieben, vielleicht auch zeitlos. Auch dies, dass die eine Quelle von Glück in einem selbst liegen mag, wir ohne die andere aber, nämlich die anderen, Menschen um uns herum, nicht vollständig sind. Corona mag hier ein Brandbeschleuniger sein, doch Einsamkeit und Isolation sind auch ohne das Virus ein Thema. Selbst Autonomie und Selbstbestimmung des Einzelnen machen ohne andere Menschen keinen Sinn. Wir müssen wachsam sein, wo sie gefährdet werden, wir sollten sie aber auch nicht überbetonen.
Andere Menschen können einem auch zu viel werden. So ging es manchen in den Jahren nach 2015, als eine Höchstzahl Schutzsuchender nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur weltweit gezählt wurde, sondern auch unser Land erreichte. Die Debatten über Flucht und Asyl sind seitdem etwas ruhiger geworden. Die Menschen haben erkannt, dass der Klimawandel für das Überleben ihrer Art die wichtigere Frage ist. Dann hat sich die Pandemie in den Vordergrund geschoben, ausgelöst durch das "chinesische Virus", wie Donald Trump zu behaupten pflegte. Und damit sieht man, dass Flucht und Asyl in der öffentlichen Meinung an Bedeutung verloren haben mögen, "Fremde" aber immer für Ressentiments und Schuldzuweisungen gut sind. "Wer schützt uns vor den Schutzsuchenden" liest man dieser Tage wieder auf Wahlplakaten.
"Jeder Verfolgte, der überlebt hat, weiß, daß er nur durch die Hilfe anderer noch hier ist," schreibt Hilde Domin 1979. Die Generation, die uns Nachkommenden diese eigene Erfahrung aus der Nazi-Zeit weitergeben kann, stirbt unweigerlich aus. Was nicht aussterben darf, ist der Einsatz für Menschen auf der Flucht, der aus dieser Erfahrung erwuchs. Leider wissen wir von Menschenhandel, von Geschäftemachern, die unbrauchbare Schwimmwesten und Boote einsetzen, kurz: von organisierter Kriminalität in Zusammenhang mit Flucht. Diese Formen von Kriminalität müssen wie alle Formen von Kriminalität konsequent bekämpft werden, die niederträchtigen besonders konsequent. Was aber, wenn Kriminelle die einzigen sind, die Hilfe, wenn auch eine gefährliche, ungesetzliche, vielleicht sogar vorgetäuschte, aber immerhin Hilfe anbieten? Das zeigt das Dilemma. Echte Hilfe, etwa von privaten Seenotrettungsorganisationen, darf deshalb nicht behindert werden. Das Recht auf Asyl darf nicht nur formal gewährt werden, es muss für Schutzbedürftige auch erreichbar sein. Dies zu gewährleisten, ist letztlich eine staatliche, heute eine gemeinsame europäische Aufgabe.
Nebenbei: Auch Willy Brandt floh nicht unter seinem eigenen Namen, sondern als Herbert Frahm. Deshalb macht die Unterscheidung zwischen "illegal" und irregulär "Sinn." Vor Verfolgung zu fliehen, ist legal. Die Wege und Mittel, die man dabei zu nutzen hat, können jedoch nicht immer regulär sein. Es sei denn, man stärkt die internationalen Programme der Flüchtlingsorganisationen und erhöht die Kontingente, auf denen Menschen auf legalen, sicheren Wegen aus dem Elend ausgeflogen werden können, die verletzlichsten Gruppen zuerst. Der UNHCR wirbt für eine Million solcher Plätze, verteilt über zehn Jahre, weltweit. Das wäre nicht nur human, es wäre auch sehr sinnvoll, denn auf den irregulären Wegen erreichen noch immer viel zu viele unseren Kontinent, die am Ende keinen Schutzstatus erhalten. Flucht wird man nie ganz verhindern können, obwohl man alles dafür tun muss, sie unnötig zu mache. Vielleicht gehört Flucht zum menschlichen Schicksal. Umso wichtiger ist es, daran zu arbeiten, dass die Würde des Menschen auch entlang seiner Fluchtrouten gewahrt bleibt.
"Nicht im Stich lassen, sich nicht und andere nicht, das ist die Mindest-Utopie, ohne die es sich nicht lohnt, Mensch zu sein", schreibt Hilde Domin. Ehren wir die Lyrikerin und Heidelberger Ehrenbürgerin, indem wir uns daran erinnern lassen und von Neuem versuchen, danach zu handeln, indem wir helfen, wo Hilfe nötig und möglich ist, anderen und uns selbst zum Glück.
Info: Prof. Dr. Lars Castellucci ist Bundestagsabgeordneter der SPD und in dieser Funktion Sprecher der Arbeitsgruppe Migration und Integration sowie Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften.