Von Heribert Vogt
Heidelberg. Eine ganz intensive Stimmung von Indian Summer umfängt den Leser von Bernhard Schlinks neuem Buch "Abschiedsfarben". Denn die darin enthaltenen Erzählungen leuchten so stark wie die Blattverfärbungen in den nordamerikanischen Wäldern während jener berühmten Schön-Wetter-Periode im Spätherbst. Auch der 76-jährige Schlink, Autor des Weltbestsellers "Der Vorleser", ist in einer herbstlichen Lebensphase angelangt. Davon künden die Geschichten des neuen Buchs, die durchweg autobiographisch grundiert scheinen – und eine dieser Erzählungen ist in Schlinks Heimatstadt Heidelberg angesiedelt.
Angesichts des trüben lebensgeschichtlichen Erwartungshorizonts im höheren Alter durchwandert Bernhard Schlink in diesen literarischen Texten das tiefer in der Vergangenheit liegende Bergwerk der Erinnerungen, dessen Stollengänge bis in die Kindheit zurückreichen. Sicher, hier unten strahlt nicht die Sonne ungebrochener Daseinsfreude, aber Schlink gelingt es doch meisterlich, die Magie einer reichen Gefühlswelt immer wieder zum Leuchten zu bringen – selbst wenn sie viele Jahrzehnte zurückliegt.
Schauspielerin Kate Winslet 2009 mit dem Oscar für ihre Rolle in „Der Vorleser“. Foto: Paul BuckUnd dies, obwohl gleich in den ersten Zeilen des Buches klar wird, was die späte Lebensstunde geschlagen hat: "Sie sind tot – die Frauen, die ich geliebt habe, die Freunde, der Bruder und die Schwester und ohnehin die Eltern, Tanten und Onkel. Ich bin zu ihren Beerdigungen gegangen, vor vielen Jahren oft, weil damals die Generation vor mir starb, dann selten und in den letzten Jahren wieder oft, weil meine Generation starb."
Der Altersdepression widerspricht dann etwa die letzte Erzählung "Jahrestage", in der ein älterer Herr noch einmal die Liebe einer jungen Frau findet. Und das Buch klingt mit einer Umarmung aus, bei der er stammelt: "Es war nur … wie du tanzt, wie du bist … ich kann mein Glück nicht fassen." Vor allem die Faszination der Frau und das Mysterium der Liebe kehren in den Erzählungen immer wieder, mal in fernen Erinnerungen, dann wieder hautnah – in des Wortes wahrer Bedeutung. Die Liebe ist die Hauptverteidigerin gegen den Tod und sorgt noch im dunkler werdenden Herbstwald des fortgeschrittenen Lebens für die schönsten Farbexplosionen.
Sogar, wenn der männliche Erzähler in das Jahr 1957 zurückkehrt, in dem ein Elfjähriger mit seiner Mutter Urlaub auf einer deutschen Insel macht. Dieser präpubertäre Junge gehört den Zahlen nach beinahe dem Jahrgang Schlinks an. Und er erlebt in diesen Ferien erstmals die Sexualität, bei seiner schönen Mutter – sie liest Vladimir Nabokovs erotischen Roman "Lolita" – wie bei den Mädchen am Strand. Es wird ein heißer "Sommer der Sinnlichkeit", den Schlink so kühl wie atmosphärisch dicht beschreibt.
In den Geschlechterbeziehungen noch deutlich spannender geht es in der Geschichte "Geliebte Tochter" zu. Dieser Titel lässt sich so und so lesen. Der Autor führt hier in weiten Bögen durch das Familienleben eines kinderlosen Mannes, der in zweiter Ehe noch das Geschenk einer wunderbaren Stieftochter bekommt. Allein, Mara zeigt schon früh lesbische Neigungen. Dann zieht sie es wieder zur anderen Seite, bis sie schließlich ihre Jugendliebe heiratet.
So weit, so gut – aber mit dem Kinderwunsch wird es schwierig. Keine Methode hilft. Es findet sich dann der Satz: "Wenn Not am Mann ist, muss Vater ran…". Aber Schlink gelingt es wunderbar, die heikle Affäre nach dem Motto "Wenn der Vater mit der Tochter" erzählerisch zu durchschreiten und dabei mit den Abgründen wie den Triumphen zwischen Frau und Mann souverän zu jonglieren.
Weniger tragikomisch, aber ebenfalls sehr schön zu lesen ist der Text "Geschwistermusik", der zu einem erheblichen Teil in Heidelberg angesiedelt ist und in dem sich Liebe und Freundschaft sowie Schuld und Sühne überlagern. Dort heißt es: "Philip kam zu Beginn des Schuljahrs in die Klasse, die Familie war von Dortmund nach Heidelberg gezogen, und zu aller und auch seiner Überraschung wandte Susanne sich ihm in einer Pause zu." Und dann erst das luxuriöse Domizil von Susannes Familie: "Erst recht eine Überraschung war das Haus am Berg, in dem Vollmars wohnten. Ein Haus, wie Philip noch keines gesehen hatte, in den Berg hineingebaut und aus ihm herausragend, mit großer Terrasse mit offenem Kamin und Fensterfront mit Blick auf die Ebene. Ein Bähnchen führte von der Straße den Berg hinauf zum Haus."
Aber hinter der ambitionierten Fassade lauern Katastrophen, und Philip kann Susanne nicht wirklich erreichen. Erst geschlagene fünfzig Jahre später findet das Begehren seine Erfüllung. Auch in anderen Geschichten spielen die Jugendlieben eine besondere Rolle. Offenbar bleiben sie bis ins hohe Alter präsent oder kehren bei der Rückschau auf das Leben mit Macht zurück. Entweder in der Form lebhafter Erinnerung oder mitunter auch beim späten Versuch einer Wiederbelebung. Aber manchmal ist auch kaum noch etwas zu retten – so tief verschüttet ist das alte Glück.
Das ist etwa der Fall in der Geschichte "Das Amulett", die aus weiblicher Perspektive erzählt wird. Die Ehefrau Sabine erleidet einen schweren Verlust: Ihr Mann Michael verlässt sie mit dem polnischen Au-pair Milena. Sabine ist tief verwundet, und als Michael Lymphknotenkrebs bekommt, "gönnt" sie ihm die zum Tode führende Krankheit. Als er sich jedoch in einem finalen Gespräch für sein Verhalten entschuldigt, kann sie trotz allem zu einem inneren Frieden finden. Aber noch ganz anders endet das kriminalistisch angehauchte "Picknick mit Anna": Hier verroht eine junge Frau und wird schließlich ermordet.
Freilich sind neben den Frauen auch Freunde und Angehörige wichtig. In "Daniel, my Brother" ist es der ältere Bruder Chris, der in hohem Alter mit seiner kranken Frau Dina Doppelselbstmord begeht. Und Schlink führt hier nuanciert durch die Trauerarbeit des jüngeren, in Amerika lebenden Bruders, bei dem zunächst Schmerz und Bestürzung dominieren, dann jedoch auch weniger "brüderliche" Gehässigkeiten und Rivalitäten seitens des Älteren ins Bewusstsein gelangen. Bis der Trauernde in der Synthese neben den Schatten auch wieder das Licht sieht: "Das alles war Chris."
In dieser Geschichte verwendet Schlink die Herbstmetaphorik explizit. So heißt es zu dem jüngeren Bruder in den USA: "Sein Blick vom Schreibtisch ging auf eine große Wiese, hinter der Wiese auf grün und gelb und rot prangenden Herbstwald, hinter dem Wald auf Bergzüge, der erste grün, der nächste blau, der letzte grau." Und zwei Seiten später: "Sie fuhren durch die hügelige Landschaft und die Farbenpracht des Indian Summer…".
Bernhard Schlink, der inzwischen auf ein großes belletristisches Werk mit Romanen, Krimis und dem nun schon dritten Erzählband zurückblicken kann, erzählt hier extrem variantenreich von der Facetten- und auch Vernetzungsvielfalt des Lebens noch in späten Jahren: Da gibt es tausend und viel mehr Schattierungen von Grau.
Und nie hat man den Eindruck eines literarischen Déjà-vu. Wenn man etwas kritisieren will, dann ist es eine gewisse, professoral anmutende Satzbau-Akrobatik. Aber sie ist doch recht selten, und man spürt auch darin den Willen, komplexe Sachverhalte sprachlich zu spiegeln. Zumeist herrscht eine recht schlichte Sprache vor, und mit wenigen Wortstrichen werden Personen wie Situationen gekonnt skizziert.
Eine ganz wesentliche Stärke liegt auch in der Konstruktion der Erzählungen. Wie der Schriftsteller mit langem Atem Zeiten und Orte verschränkt, Kontinuitäten mit Sprüngen und Brüchen kombiniert, Spannungsaufbau mit überraschenden Wendungen betreibt – das hat große Klasse. Dies alles spielt sich vor allem in der bürgerlichen bis großbürgerlichen Welt ab. Kein Wunder, denn Bernhard Schlink ist nicht nur ein weltbekannter Autor, sondern auch ein renommierter Jurist, und er entstammt einer angesehenen Familie.
Dennoch geht es keineswegs um die High Society. Liebe wie Emotionen passieren überall. So kommt etwa der Junge in der Heidelberg-Geschichte aus recht einfachen Verhältnissen, und in dem Auftakttext "Künstliche Intelligenz" wird auch das Leben in der DDR thematisiert. Zwar verraten die anspruchsvollen Texte bisweilen den gebildeten Schriftsteller, und es finden sich recht häufig Bezüge zur Weltliteratur, aber solche Passagen gewinnen nie die Oberhand.
Jedoch ganz unabhängig davon, in welche Milieus die Geschichten eingebettet sind oder mit welchem Tempo sie erzählt werden, ich habe das Buch durchweg gerne gelesen. Denn gerade in diesen Corona-Zeiten lädt es zu ganz besonderen Gedankenreisen ein.
Info: Bernhard Schlink: "Abschiedsfarben". Erzählungen. Diogenes Verlag, Zürich 2020. 240 Seiten, 24 Euro. Das E-Book kostet 20,99 Euro.