Mit dem Apfel vom Baum der Erkenntnis: "Adam und Eva" von Lucas Cranach dem Älteren aus dem Besitz des Warschauer Museums Narodowe. Foto: dpa
Von Harald Raab
Heidelberg. Die Bibel, das Buch der Bücher - wenigstens aus jüdisch-christlicher Sicht. Hochgelobt, aber wenig gelesen. Eine Sammlung kruder Geschichten von Mord und Totschlag, Inzest, Vergewaltigung, Raub und Diebstahl, Intrigen und Tyrannei, aber auch Liebe und Menschlichkeit, Altruismus und Bekennermut. Obendrein irrlichtert ein ziemlich inkonsequenter Gott im Himmel wie auf Erden herum. Mal ein jähzorniger Schlagetot, mal ein Zauderer, mal ein unverständlich laxer, nachsichtiger Schöpfergott, mal ein widerlicher Korinthenkacker, ei-fersüchtig und nach-tragend, mal ein gütiger Freund der Menschen und all seiner Geschöpfe, vergebend und verstehend.
Die Bibel kann aber auch anders als durch die Brille der Religion gelesen werden. Dazu fordern der Anthropologe und Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel auf. Im Heidelberger DAI stellten die beiden Agnostiker ihr teils hoch gelobtes, teils kritisch gesehenes Buch vor: "Das Tagebuch der Menschheit", Untertitel: "Was die Bibel über unsere Evolution verrät", erschienen im Rowohlt Verlag.
Man muss den beiden Wissenschaftlern in ihrer teilweise auf Hypothesen gestützten Argumentation nicht unbedingt folgen. Mit ihnen wird jedoch die Bibel-Lektüre zu einem spannenden, oft auch amüsanten Erlebnis. Zwischen Krimi und Chronik der kulturellen Evolution der Spezies Mensch.
Um es vorwegzunehmen: Gott ist den beiden Autoren ein Gebilde aus Menschenhand und -hirn, unverzichtbar für das soziale Miteinander und dafür, die Zumutungen des Lebens aushalten zu können. Und auch das ist als Grundannahme ihnen wichtig: Der Gott der Bibel ist ein Mixtum Compositum aus der Vielgötterei des vorantiken Orients. Wo vorher eine ganze Schar von Göttern für alles Mögliche zuständig war, musste jetzt eine Gottgestalt für alles herhalten. Daher die Schizophrenie des einzigen Gottes. Und das Dilemma des moralischen Entweder-Oder von Gut und Böse. Trotz all des Widersprüchlichen: van Schaik und Michel stimmen zu: "Die Bibel ist das wichtigste Buch der Menschheit." Freilich nicht wegen ihrer Heiligkeit, sondern weil sich aus ihr wesentliche Erkenntnisse über das Wesen der Menschen und ihrer kulturellen Evolution gewinnen lassen. Mit dem Instrumentarium der Kognitions- und Evolutionswissenschaften analysieren sie die Bibel, beginnend bei der Genesis, über Moses und Exodus, Könige und Propheten bis hin zu den Psalmen und Schriften. Auch das Neue Testament sparen sie nicht aus.
Wem leuchtet schon ein, dass der Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis zur Vertreibung aus dem Paradies geführt habe? Aus evolutionskultureller Perspektive scheint der große Sündenfall vielmehr der Wandel zu sein - von der Existenz als auf Gemeinschaft ausgerichteter frei umherschweifender Jäger und Sammler hin zur Sesshaftigkeit mit Unterdrückung der Frauen, Landbesitz und daraus folgenden Erbschaftsquerelen, Kriegen und Raubzügen. Die Vertreibung aus dem paradiesischen Urzustand in die Zwänge einer elenden Welt, mit Plackerei, Seuchen, Dürren, Krieg und anderen Misslichkeiten lässt den Menschen zum Wolf für die Mitmenschen werden. Der Monotheismus als großer Entwicklungsschritt, aber auch als Legitimation von Alleinherrschern, auch der der Kirchenfürsten.
Die Geburt der Gewalt bei Kain und Abel im Brudermord endend, Sodom und Gomorrha ein einziger Sündenpfuhl der Männer, die bei der herrschenden Primogenitur keine Herden und keine Weiber abbekommen haben. Sein wie Gott mit der Hybris beim Turmbau zu Babel. Zur Strafe dann die Sintflut und Gottes Versprechen, nachdem er sein Mütchen gekühlt hat, nie wieder den Menschen und allem Getier einen solchen Tort anzutun. Herr über Wohl und Weh konnte für die gepeinigten Menschen nur ein allgewaltiger Gott sein. Es galt, ihn gnädig zu stimmen - durch rigorose Gesetze und reichlich Opfergaben. Die Religion als Sicherungssystem für den Fortbestand von menschlichen Gemeinschaften.
Triebhaftigkeit gehört zur genetischen Grundausstattung der Menschen. Seine zweite Natur ist von Sitten und Religion geprägt, also ein kulturelles Produkt. Als dritte Naturebene kommt Handeln nach Maßstäben der Vernunft hinzu. Keine Frage, dass die animalischen Triebe immer wieder die Oberhand über Gebote und Moral erlangen und Vernunft erst recht das Nachsehen hat.