„Covid 19“ hat der Heidelberger Mediziner und Künstler Horst Seller diese vor wenigen Tagen gestaltete Zinkgrafik betitelt. Das schnabelartige Gebilde vor dem Totenschädel erinnert an venezianische Pestmasken. Im Mittelalter wurde sie von Ärzten während der Pest-Epidemien getragen, heute gehören sie zu Karnevalskostümen. Repro: RNZ
Von Volker Oesterreich
Heidelberg. "Es ist ein Schnitter, der heißt Tod, / Hat Gewalt vom höchsten Gott", lauten die ersten beiden Verse eines Volkslieds aus dem 17. Jahrhundert. Geprägt vom alttestamentarischen Vanitas-Gedanken der Barock-Zeit, reflektiert es die Vergänglichkeit des Menschen in Zeiten großer Not oder kriegerischer Exzesse. Das Dichtergespann Achim von Arnim und Clemens Brentano hatte es in seiner dreibändigen Volksliedsammlung "Des Knaben Wunderhorn" (1805–1808) in Heidelberg veröffentlicht. Das literarische Memento mori findet seine Entsprechung in unzähligen anderen dichterischen und bildkünstlerischen Ausformungen quer durch die Kunst- und Kulturgeschichte.
Besonders bildkräftig wirken die mittelalterlichen Totentänze, gestaltet als Fresken oder als Holzschnitte wie in der legendären Schedle’schen "Weltchronik" (1493). Genau von solchen Darstellungen ließ sich der Heidelberger Mediziner und bildende Künstler Horst Seller inspirieren, als er dieser Tage seine Grafik "Covid 19" als Reflex auf die derzeitige Pandemie schuf. Der emeritierte Professor leitete bis 2003 das Institut für Physiologie im Neuenheimer Feld und ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Seit vielen Jahren malt er auch, "hauptsächlich in Öl", wie er der RNZ sagte. Zugleich hat er ein Faible für die Grafik, wobei er gegenständliche Arbeiten bevorzugt. Die Abstraktion liege ihm weniger. Bei seiner jüngsten Arbeit handelt es sich um eine Zinkradierung in kleiner Auflage: "Mein Gedanke ist der über das Land streichende und sein Gift verteilende Tod mit der venezianischen Pestmaske", sagte der 1938 geborene Wissenschaftler und Künstler.
Die schnabelartige Maske kennt man aus dem venezianischen Karneval. Dort symbolisiert sie beim alljährlichen Mummenschanz, der normalerweise von gewaltigen Touristenscharen besucht wird, das Grauen und den Schrecken vergangener Jahrhunderte. In diesem Jahr blieben die Masken jedoch in der Requisite der Karnevalisten, da das festlich-bunte Spektakel wegen der hohen Ansteckungsgefahr abgesagt werden musste.
Zahllose andere Veranstalter streichen derzeit ebenfalls die Segel, auch im Kulturbereich. Prominenteste Beispiele sind die Mailänder Skala oder der Pariser Louvre. Auch bei uns werden mehr und mehr Tagungen, Großveranstaltungen und Kulturevents abgesagt, täglich werden es mehr. Wie stark sich schwindende Besucherzahlen auf die Kino-, Theater-, Festival- und Konzertkassen auswirken werden, wissen wir erst, wenn am Monatsende bilanziert wird. Schwere Zeiten für das Publikum und die ohnehin knapp kalkulierenden Kulturmanager. Sollten sie in den nächsten Wochen oder Monaten in Schwierigkeiten geraten, darf bei den Subventionen nicht geknausert werden. Denn die Bildung und die Kultur bilden den wichtigsten Kitt in unserer Gesellschaft. Auch diese Botschaft vermittelt Horst Sellers Radierung.