Aus der Perspektive einer jungen Künstlerin: die Filmregisseurin Ulrike Ottinger in ihrem Dokumentarfilm „Paris Calligrammes“. Repro: RNZ
Von Wolfgang Nierlin
Mannheim. Als Ulrike Ottinger im Jahre 1962 erst in einer klapprigen Isetta, dann per Autostopp von ihrer Heimatstadt Konstanz aus nach Paris fährt, ist ihre Euphorie groß: "Ich war 20 Jahre jung und mit dem festen Ziel nach Paris gekommen, eine große Künstlerin zu werden." Mit großer Neugier und einem Interesse für alles erforscht sie flanierend die Stadt an der Seine. "Gehen und Sehen" werden zu ihrer wichtigsten Beschäftigung und erweitern in der Folge enorm ihren Horizont.
Sie wohnt im Quartier Latin unweit der Sorbonne und bewegt sich unter den Literaten und Künstlern, die sich in der "Librairie Calligrammes" des jüdischen Exilanten Fritz Picard, dem Atelier des Radierers Johnny Friedlaender und in den Cafés von Saint-Germain-des-Prés treffen. Paris ist voller Kunst, heißt es einmal. Zugleich wächst eine kriegerische Unruhe, die vom kolonialen Erbe Frankreichs herrührt.
"Gedichte vom Frieden und vom Krieg 1913–1916" lautet der Untertitel von Guillaume Apollinaires 1918 veröffentlichter Gedichtsammlung "Calligrammes", die nicht nur dem Antiquariat von Fritz Picard seinen Namen gab, sondern auch Ulrike Ottingers Dokumentarfilm "Paris Calligrammes". Ihr bis 1969 währender Aufenthalt in der französischen Hauptstadt steht entsprechend im Zeichen gegensätzlicher Kräfte: zwischen der trügerischen Ruhe einer noch andauernden Nachkriegszeit und den kommenden Erschütterungen durch eine politische Revolte. Das gewissermaßen aus den Geschichtsbüchern gestrichene Massaker der französischen Polizei an algerischen Einwanderern markiert diesbezüglich die unheilvolle Schnittstelle einer zerstörerischen Kontinuität.
Inmitten dieser höchst spannenden Zeitläufte eröffnet Ulrike Ottinger zugleich eine ungemein reiche kulturgeschichtliche Schatztruhe. Sie berichtet von Begegnungen mit Künstlern und Werken, von Streifzügen durch Museen, Bibliotheken und Jazzkellern, von ihren Besuchen der Cinémathèque française sowie von ihren eigenen "Formexperimenten", die in Verbindung mit ihrer Entwicklung ethnographischer Interessen stehen.
Gleich zu Beginn von "Paris Calligrammes" fragt sich die Filmemacherin, wie sie einen Film machen könne "aus der Perspektive einer sehr jungen Künstlerin, an die ich mich erinnere, mit der Erfahrung einer älteren Künstlerin, die ich heute bin". Sie überbrückt diesen historischen Abstand, indem sie die aus dem Off gesprochenen persönlichen Erinnerungen an ihre künstlerischen Lehrjahre mit eindrücklichem Filmmaterial aus den Archiven und mit aktuellen Ortserkundungen verknüpft. Eingeteilt in thematische Kapitel und im Wechsel von Schwarzweiß und Farbe, wirkt Ottingers Bilder- und Gedankenstrom auf den ersten Blick wohltuend konventionell.
Tatsächlich weitet sich in "Paris Calligrammes" unter der ethnographischen Prämisse des notwendigen kulturellen Perspektivwechsels das autobiographische Zeitbild zum Blick auf eine unglaublich reiche, vielgestaltige Epoche, deren hoffnungsvolle Aufbrüche zugleich den Keim der Zerstörung in sich tragen. In die Melancholie über das Verschwundene, das dieser Film bewahrt, mischt sich beim Zusehen deshalb auch ein wehmütiges Gefühl der Vergeblichkeit angesichts eines, wie Ottinger sagt, "absurden Theaters der Grausamkeit".
Info: Mannheim, Cinema Quadrat: Dienstag 19.30 Uhr; Mittwoch 17.30 Uhr.