Die
wortgewaltige Komödie "Fräulein Agnes" von Rebekka Kricheldorf beim Heidelberger Stückemarkt Szenenfoto: Georges
Pauly
Von Heribert Vogt
Heidelberg. Frappierend beim Heidelberger Stückemarkt ist in diesem Jahr vor allem die starke Überschneidung mit den Mülheimer Theatertagen NRW.
Auf dem Stückemarkt begegnet man den autokratischen Systemen in Russland, im Iran oder in der Türkei. Wie politisch ist der 35. Festival-Jahrgang?
Schultze: Die Welt wird politischer, und die Autoren verhalten sich zur starken Verunsicherung. Vor einigen Jahren dominierte noch der Rückzug ins Private. Davon ist nicht mehr viel zu merken.
Auch beim Gastland Südkorea ist die Diktatur in Nordkorea ganz nah.
Schultze: Südkorea ist aus vielen Gründen spannend. Nach dem jüngsten Regierungswechsel folgt nun eine Öffnung. Zuvor gab es Schwarze Listen für Künstler, die nicht gefördert wurden - eine große Wunde. Und die MeToo-Debatte ist ein Wahnsinnsthema. Die Gender-Thematik trifft man auch beim Gastspiel "Romeo und Julia" an. Dann ist in Südkorea durch die Teilung und das Wirtschaftswunder eine Deutschlandnähe vorhanden. In puncto Turbokapitalismus und Leistungsdruck hat uns Südkorea weit überholt. Die hochtechnoide Fortschrittsgesellschaft steht im Widerspruch zum alten Korea, diese Ambivalenz beschäftigt auch die Theater. Von der Bedrohung aus dem Norden merkt man im Alltag von Seoul wenig.
Intendant Holger Schultze und Co-Leiterin des Stückemarkts Katrina Mäntele. Foto: P. Rothe
Was passiert im Jugendtheater?
Mäntele: Ein wichtiges Thema ist die Radikalisierung. Damit befasst sich das Stück "Zucken" von Sasha Marianna Salzmann (Junges Theater Basel). Dieses besticht durch den andersartigen Umgang mit dem Stoff. Es geht um Terror im Allgemeinen: Was bewegt Menschen dazu, zur Waffe zu greifen? Der Islamische Staat oder die Ukraine spielen eine Rolle. Da kommen Jugendliche selbst zu Wort. Und "Heimatkleid" von Kirsten Fuchs (Grips Theater Berlin) greift spannend das Thema Populismus auf.
Bühnen aus Österreich und der Schweiz sind nun besonders stark vertreten.
Schultze: Das ist vor allem Zufall. Die Regisseure arbeiten eben oft in allen deutschsprachigen Ländern.
Mäntele: Auch wir haben uns über die starke Präsenz der Alpenländer gewundert. Bei uns gibt es den Witz über die Gastländer Südkorea und Wien. Das hochspannende Theater Basel macht einfach viel neue Dramatik.
Jetzt sind mehrere Klassiker vertreten: Hauptmanns "Vor Sonnenaufgang" aus Basel, Goethes "Faust" aus Heidelberg, und aus Südkorea Millers "Tod eines Handlungsreisenden" sowie Shakespeares "Romeo und Julia".
Schultze: In Seoul gibt es neben aktuellen und traditionellen Themen die Tendenz, sich massiv an Klassikern abzuarbeiten. Aber auch in Europa ist die Bearbeitung von überlieferten Stücken gerade auf dem Vormarsch.
Mäntele: In der koreanischen Tradition sind Tanz und Musik wichtiger als Sprechtheater. Deshalb wird oft auf westliche oder russische Klassiker zurückgegriffen. Da ist das Gastspiel "Before After" (Creative VaQi) als Rechercheprojekt eine Ausnahme. Und im deutschsprachigen Raum sind bei "Vor Sonnenaufgang" oder dem Filmklassiker "Spiel mir das Lied vom Tod" aus Braunschweig neue Werke entstanden. Die Überschneidung des Stückemarkts mit den Mülheimer Theatertagen war noch nie so groß wie jetzt. Zusätzlich zur Kooperation beim Jugendtheater ist das Heidelberger Theater erstmalig dort eingeladen. Dann sind vier Mülheimer Gastspiele zuvor auch in Heidelberg zu sehen. Hier zeigt das Burgtheater Wien zudem den Mülheim-Gewinner von 2016. Und das dort eingeladene Jelinek-Stück "Am Königsweg" aus Hamburg hat heute in Heidelberg Premiere.
Schultze: Auch das sind Zufälle. Es gibt keine Geheimabsprachen mit Mülheim. Ich finde es interessant, dass jetzt einige Stücke besonders auffallen.
Mäntele: Die vier parallel eingeladenen Stücke sind herausragende Texte, großartig inszeniert.
Sie sind aber in Berlin weder beim dortigen Stückemarkt noch bei den Autorentheatertagen zu sehen.
Schultze: Wir können nichts dafür, dass wir im 43. Mülheim-Jahr mit "Beben" erstmalig dort eingeladen sind …
Im positiven Sinn aber schon. Und worauf sind sie nun beim Stückemarkt besonders gespannt?
Schultze: Vielleicht auf die Band Ssing Ssing aus Seoul an der Schnittstelle von Performance, Musik, Schauspiel. Sie macht bei einer Party Lust auf Korea.
Ihr Fazit zum Stückemarkt 2018?
Schultze: Etwa aus Wien oder Berlin kommen erneut viele Spitzenhäuser. So kann der Stückemarkt auf seinem tollen und facettenreichen Niveau weitergehen. Und mit Südkorea haben wir eines der ungewöhnlichsten Gastländer, die es in Deutschland je gab.