Das Wäscheklammer-System stellt sicher, dass sich maximal zehn Menschen in der Ausleihe aufhalten. Foto: Kreutzer
Von Philipp Weber
Weinheim. Die Ersten sind schon um kurz nach 10 Uhr da: Die Weinheimer Stadtbibliothek hat am Dienstagvormittag gerade erst aufgemacht, als die ersten Kunden kommen. Die meisten von ihnen betreten die Einrichtung nur für kurze Zeit, geben Bücher zurück und verschwinden dann in die Innenstadt, um weitere Erledigungen zu machen. Wer dem Einbahnkringel nicht gleich wieder in Richtung Ausgang folgt, landet vor einem Tisch, auf dem Wäscheklammern und Desinfektionsmittel bereitliegen. Mithilfe der Klammern wird sichergestellt, dass drinnen nur so viele Kunden nach Büchern, Spielen oder Zeitschriften Ausschau halten, wie es die Coronaregeln vorsehen: genau zehn (Stand Dienstag).
"Wir können den Leuten aktuell keinen längeren Aufenthalt in unseren Räumen ermöglichen – obwohl es unter normalen Umständen unserer innersten Überzeugung entspricht, genau das zu tun", sagt Stefanie Koch. Sie leitet die Einrichtung, die neun Mitarbeiter und zwei Auszubildende beschäftigt, seit 2017. Zuletzt zählte die Bibliothek rund 125.000 Besucher und 232.000 Ausleihen pro Jahr.
Bibliotheksleiterin Stefanie Koch und ihr Team investieren viel Arbeit, um mit Kunden und Zielgruppen in Kontakt zu bleiben. Foto: KreutzerPC-Tische sollen wieder öffnen
Dann kam Corona: Die Einrichtung musste am 17. März schließen. Koch und ihre Kollegen nutzten die ersten Schließtage, um aufzuräumen und Unerledigtes abzuarbeiten. Bald kam das Team auf die Idee, den Kunden ab 2. April einen Lieferdienst anzubieten – und digitale Angebote zur Verfügung zu stellen. 175 Lieferungen und knapp einen Monat später ging die Bibliothek wieder in Betrieb, zunächst mit verlängerten Öffnungszeiten. Seit dem 2. Juni ist die Einrichtung wieder zu den üblichen Zeiten geöffnet. Vor allem im Verlauf der ersten beiden Öffnungstage nach der Schließung war viel los, 3500 Medien wurden zurückgegeben, 3000 neu ausgeliehen.
"Wir wurden vermisst", stellt Bibliotheksleiterin Koch fest: "Das haben uns auch viele Kunden gesagt." Dennoch ist gerade in Orten wie Bibliotheken noch immer vieles, wenn nicht gar alles anders. Das zeigt sich schon im Foyer, das den Lokalreporter deprimiert zurücklässt: Wo sonst Menschen an Tischen sitzen und die in Weinheim erscheinenden Tageszeitungen durcharbeiten, herrscht jetzt gähnende Leere. Auch die kuscheligen Aufenthaltsbereiche im Inneren der Bibliothek sind frei. Ein Absperrband und gestapelte Kinderstühle blockieren das kleine "Lesehaus" im Familienbereich im Erdgeschoss. "Die meisten Eltern kommen kurz vorbei, um sich Spiele oder Bücher für daheim auszuleihen. Ihre Kinder lassen sie meistens dort, die quengeln nur, wenn sie sich nicht so bewegen können wie sonst", so Koch. Auch die Väter mit Kindern, die gern an Samstagen in der Bücherei auftauchen, bleiben aus.
Absperrbänder "zieren" den sonst oft genutzten Kopierer. Auf den Tischen mit den PC-Arbeitsplätzen haben Koch und ihr Team Kartons voller ausgedienter Bücher gestellt: So lange die PC-Plätze gesperrt und Veranstaltungen wie der Bücherflohmarkt verboten sind, können sich die Kunden hier einfach selbst bedienen.
Ein Stockwerk höher werden Schüler und Studenten vermisst: Hier sind die Bereiche für Fachliteratur. An den Tischen in den Fensternischen wird sonst für Schule und Uni gebüffelt, W-Lan gibt es hier kostenlos. Lerngruppen können sich zur stillen Arbeit treffen, ebenso wie einige Schachfreunde, die hier ihrer Leidenschaft frönen.
Nun sind auch die Räume der Ruhe leer, ebenso wie das Nottreppenhaus, in dem sonst gern mal am Handy telefoniert wird. "Solange das Telefonierverbot in den eigentlichen Bibliotheksräumen eingehalten wird, sehe ich darüber hinweg", sagt Koch und lacht. Natürlich verfolgt sie die Medienberichterstattung und weiß, dass es Branchen gibt, die die Krise noch härter trifft. Aber auch die öffentliche Bücherei hat ihre Probleme.
Das Häuschen, in dem es sich sonst Eltern und Kinder zum Lesen gemütlich machen, ist zurzeit abgesperrt. Foto: KreutzerEs fehlen direkte Einnahmen, da die Mahngebühren während des Lockdowns ausgesetzt waren und niemand den großen Saal oder den Gruppenraum für 120 beziehungsweise 35 Menschen anmieten konnte. Kopierer, Kaffeeautomat und eben die PCs ruhen bislang ebenfalls. Zudem weiß noch niemand, was es für die Bibliothek bedeutet, wenn sich die finanzielle Lage der Kommune verschlechtert.
Verluste entstehen aber auch im zwischenmenschlichen Bereich: Die Weinheimer Stadtbücherei hat hart daran gearbeitet, zu einem "Dritten Ort" zu werden: Diesem Konzept zufolge ermöglichen Bibliotheken nicht nur vielfältige Mediennutzungen, sondern fungieren auch als analoger Treffpunkt in einer zunehmend digitalisierten Welt.
Sie sollen für alle Bevölkerungsgruppen offen sein, ohne Konsumzwang – aber durchaus mit Zielgruppenarbeit. Jetzt vermissen die Schachspieler ihre Partien, die Rentner ihren Kaffeeklatsch – und die Familien ihre Freizeit- und Bildungseinrichtung. Viele Weinheimer merken wohl jetzt erst, was fehlt, wenn die Bücherei zu hat oder nur eingeschränkt öffnen kann.
Dennoch wollen Koch und ihre Mitarbeiter für die Kunden erreichbar bleiben. Für junge Eltern stehen Tüten bereit. Sie enthalten Material für Bastel- und Vorleseangebote, die sonst in der Bücherei stattfinden. Auf Facebook hat die Bibliothek einen Legowettbewerb ausgelobt. Und vom 1. Juli bis zum 11. September bieten die Bücherei und weitere Einrichtungen in der Stadt die "Bibliotheca Somnia" an – eine Art Schnitzeljagd quer durch Weinheim.
Weitere digitale Angebote sind in Vorbereitung, darunter Schulungen für Recherche. Apropos Recherche: Es besteht großes Interesse an einer Zusammenarbeit mit dem unabhängigen Reportnetzwerk "Riff". Thema: Fake News.
Einen Hoffnungsschimmer mehr sendete am Dienstag – kurz nach dem RNZ-Besuch in der Bibliothek – der Krisenstab der Stadt Weinheim. Die Bücherei darf ihre Internetarbeitsplätze wieder öffnen. Sobald die PCs stehen und der Bücherflohmarkt den Ort gewechselt hat, geht’s los. Spätestens am Freitag.