Die Behörden sehen in Boden ein "Billig-Bauland"
Der Verwaltungsgerichtshof hat seine Entscheidung gegen den Bebauungsplan in der "Hinteren Mult" begründet.

Weinheim. (web) Der Bauernverband und die BI Breitwiesen fühlen sich bestätigt: Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs (VGH) Baden-Württemberg gegen den Bebauungsplan zur gewerblichen Entwicklung der Hinteren Mult zeuge "von hoher Wertschätzung für unsere Äcker und Wiesen", so Fritz Pfrang, Vorsitzender des Bauernverbands. Die richterliche Entscheidung widerspreche damit der gängigen Meinung der Gemeindeverwaltungen, "die den Boden zu billigem Bauland degradieren".
Nicht bewertet worden seien vonseiten des VGH dagegen die Nachteile der Ersatzflächen, die die Stadt den von der Umwandlung der Hinteren Mult betroffenen Landwirten zur Verfügung stellen wollte. "Diese Nachteile auszugleichen, die allein schon aus der weit größeren Entfernung von den Hofflächen der betroffenen Landwirte entstehen, hat die Stadt wissentlich nicht angestrebt", so Pfrang (wobei dies nicht ausschlaggebend dafür war, dass der Bebauungsplan gekippt wurde, Anm. d. Red.).
Für seine Vorwürfe an die Behörden hat er noch ein Exempel parat: die zeitweise Inanspruchnahme von Ackerland für die Sanierung der A5. "Bestes Beispiel der ,Wertschätzung’ der Behörden für den Boden ist die Vernichtung eines Getreidefeldes wegen der Sanierung, wo ohne zeitlichen Druck ein in wenigen Tagen erntereifer Acker einfach weggeschoben wurde", so Pfrang.
Update: Montag, 11. Juli 2022, 19.44 Uhr
Richter rügen, der Plan habe "beachtliche formelle Mängel"
Auch interessant
Von Philipp Weber
Weinheim. Es sind 46 Seiten. Und sie enthalten einige Kritikpunkte, die die Verwaltung nicht gut aussehen lassen: Nachdem der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg den Bebauungsplan zur gewerblichen Erschließung der Hinteren Mult am 25. Mai gekippt hatte, folgte nun die Urteilsbegründung. Diese liegt der RNZ seit Dienstagabend vor, ebenso wie eine Stellungnahme von Arnulf Tröscher, Vorsitzender des Vereins "Landerlebnis Weinheim" und vehementer Kritiker eines Gewerbegebiets an dieser Stelle. Geklagt hatte ein landwirtschaftlicher Betrieb, der am Rande der betroffenen 11,36 Hektar Ackerland liegt.
> Was der VGH gerügt hat: Der Dritte Senat des in Mannheim ansässigen VGH rügt in erster Linie formelle Fehler, die der Stadt im Verlauf des über zwei Jahre währenden Bebauungsplanverfahrens unterlaufen seien: Der Aufstellungsbeschluss für den Bebauungsplan war im April 2017 erfolgt, der Satzungsbeschluss fiel im Mai 2019. Wörtlich heißt es: "Der Bebauungsplan leidet an beachtlichen formellen Mängeln."
So rügen die Richter, dass die im Zuge der ersten Öffentlichkeitsbeteiligung eingegangenen Stellungnahmen Weinheimer Bürger öffentlich ausgelegt wurden, ohne dass die Verwaltung personenbezogene Daten wie Namen und Anschriften anonymisiert hätte. Es spreche vieles dafür, dass dies nicht mit geltendem Datenschutzrecht vereinbar war, schreiben die Richter. Schlimmer noch: Eine eigentlich nicht notwendige Auslegung privater Daten könne Bürger davon abhalten, im Rahmen eines Bebauungsplanverfahrens Bedenken zu äußern, so der Dritte VGH-Senat sinngemäß. Damit sei nicht nur der Datenschutz beschädigt, sondern auch das Verfahren.
Ein weiterer Kritikpunkt ist die Tatsache, dass die Stadt Weinheim im Verlauf des Verfahrens eine geplante Ökokontomaßnahme durch zwei andere ersetzt habe. Eine derartige Änderung ökologischer Ausgleichsmaßnahmen hätte aber eine erneute Beteiligung der Öffentlichkeit nach sich ziehen müssen, die nicht erfolgt sei.
Deutlich mehr Sprengkraft hat jedoch ein anderer Satz in der Urteilsbegründung: "Es spricht nach Auffassung des Senats viel dafür, dass die Antragsgegnerin (also die Stadt) ihrer Pflicht im Hinblick auf den Ausgleich von Eingriffen in das Schutzgut Boden nicht gerecht geworden ist." Die Verwaltung habe nicht ausreichend ermittelt, ob ein entsprechender Ausgleich zum Beispiel über Dachbegrünungen oder Flächenentsiegelungen innerhalb des Stadtgebiets möglich gewesen wäre. Auch auf entsprechende Vorschläge vom Wasserrechtsamt des Kreises (Untere Bodenschutzbehörde), die eine schonendere Umgestaltung der Hinteren Mult betrafen, sei die Stadt nicht hinreichend eingegangen. Ähnlich sei dies schon bei zurückliegenden Ausweisungen von Wohn- und Gewerbegebieten gehandhabt worden, so die Richter.
> Wie es nun weitergeht in der Hinteren Mult: Die Stadtspitzen verzichteten am Mittwoch auf persönliche Einschätzungen und Stellungnahmen. Dafür äußerte sich das Stadtplanungsamt in einer ersten Analyse. "Zum weiteren Vorgehen gibt es noch keine Aussage", heißt es darin: "Die Verwaltung hatte stets betont, nach Vorliegen der Urteilsbegründung zunächst eine rechtliche Prüfung vorzunehmen, bevor letztendlich der Gemeinderat über das weitere Vorgehen entscheiden muss." Tatsache ist jedoch, dass der VGH der Stadt in seiner Urteilsbegründung Hinweise gibt, worauf bei der weiteren Forcierung eines Gewerbegebiets in der Hinteren Mult zu achten sei.
Zwar ist die Stadt eindeutig die Verliererin der rechtlichen Auseinandersetzung mit einem Streitwert von 20.000 Euro; das bedeutet jedoch nicht, dass der VGH alle Kritikpunkte der Kläger teilt. In vielen Punkten geben die Richter der Stadt ausdrücklich recht. So halten sie die von der Stadt angebotenen landwirtschaftlichen Ausgleichsflächen für die hauptsächlich betroffene Bauernfamilie für zumutbar.
> Was die Gegner von Gewerbe in der Hinteren Mult sagen: Arnulf Tröscher ist vorsichtig, was eine juristische Einschätzung betrifft. Nur Juristen könnten eine solche Begründung allumfänglich würdigen, betont der Agraringenieur. Allgemein sieht sich der Vorsitzende von "Landerlebnis Weinheim" jedoch klar bestätigt. Er zeigt sich erfreut darüber, dass die Mannheimer Richter Bedenken geteilt haben, die er und seine Mitstreiter bereits 2018 vorgebracht haben. Auch sie hätten moniert, dass Eingriffe in das Schutzgut Boden in Weinheim nicht ausreichend ausgeglichen oder gemindert werden. Und auch er beruft sich auf das Wasserrechtsamt des Kreises, laut dem die Stadt entsprechende Eingriffe "bei den zurückliegenden Neuausweisungen von Wohn- und Gewerbeflächen regelmäßig nicht oder nur ansatzweise kompensiert hat". Gemeint seien etwa die Gebiete Lützelsachsen Ebene und Allmendäcker.
Deshalb hat das VGH-Urteil für ihn eine politische Komponente, die über Weinheim hinausreicht: Aus Sicht der Mitglieder seines Vereins und weiterer Initiativen gegen die gewerbliche Erschließung der Hinteren Mult hätten die Richter die Bedeutung von Boden erkannt – und die Hürden für "kompromisslose Eingriffe" höher gelegt. "Zukünftig müssen Städte nachweisen, dass sie Möglichkeiten der Kompensation ausführlich geprüft haben – Textbausteine werden nicht mehr genügen", so Tröscher.
> Wie das Amt für Stadtentwicklung das Urteil versteht: Die Experten der Stadt sehen zwei "durchschlagende" Punkte, die zur gerichtlichen Entscheidung gegen den Bebauungsplan geführt hätten: zum einen die nicht erfolgte erneute Offenlage der Pläne nach Änderung der externen Ökokontomaßnahmen (also ökologische Ausgleichsmaßnahmen, die außerhalb von Weinheim stattfinden und dann quasi verrechnet werden); und zum anderen die öffentliche Auslegung von Einwendungsschreiben, die persönliche Daten enthielten. Dies werde inzwischen anders gehandhabt, betont das Amt.
"Keine Zweifel hat das Gericht daran gelassen, dass die Belange der betroffenen Landwirte sachgerecht erhoben und behandelt wurden", sehen sich auch die Stadtplaner zumindest ein Stück weit bestätigt. Die Ersatzlandangebote seien geeignet und hätten rechtzeitig in verbindlicher Form vorgelegen, zitieren sie die Richter.
Was die Zweifel des VGH beim Ausgleich für Eingriffe in das Schutzgut Boden betrifft, unterscheidet das Amt zwischen "externen" Ausgleichsmaßnahmen und Maßnahmen innerhalb des Stadtgebiets. Die Ökopunkte-Maßnahmen – in diesem Fall letztlich im Ortenaukreis und in Mannheim-Rheinau – habe der VGH inhaltlich nicht angezweifelt. Dafür hätten die Richter Bedenken geäußert, ob ein Ausgleich für Boden-Eingriffe vor Ort zeitnah und im Zusammenhang mit der Hinteren Mult geprüft wurde.