"Kinder brauchen eine Tagesstruktur"
Interview mit Schulamtsleiter Frank Schäfer: Nachwuchs aus ukrainischen Familien soll unterrichtet werden, zugleich steigen in Schulen die Corona-Infektionszahlen.

Von Carsten Blaue
Mannheim. Das Staatliche Schulamt Mannheim ist für die Grund-, Werkreal- und Realschulen, die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) und die Gemeinschaftsschulen in Mannheim und Heidelberg sowie in den Landkreisen Rhein-Neckar und Neckar-Odenwald zuständig. In diesem Einflussbereich werden rund 77.000 Schülerinnen und Schüler an über 300 Schulen von knapp 8000 Lehrkräften unterrichtet. Am 21. Februar wurde Frank Schäfer zum neuen Leiter des Amtes ernannt. Im RNZ-Interview spricht er auch über die Integration geflüchteter Kinder aus der Ukraine in den Schulalltag, über die angespannte Lehrerversorgung und die Beibehaltung von Corona-Schutzmaßnahmen. Außerdem erläutert er sein Verständnis von Menschenführung in der Krise und spricht einen großen Dank aus: An die Schulleitungen und die Lehrkräfte für ihren Einsatz in der Krise.
Herr Schäfer, Sie haben Ihr neues Amt in einer herausfordernden Zeit übernommen.
Man kann sich den Zeitpunkt des Amtsantritts leider nicht aussuchen, und die Zeiten sind, wie sie sind. Aktuell bestehen parallel zwei Herausforderungen: Zum einen steigen die Infektionszahlen in den Schulen unter den Kindern und Lehrkräften, und zum anderen wird in unserer regionalen Zuständigkeit die Anzahl der Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine immer größer. Das Staatliche Schulamt Mannheim hat neben der Aufsichtsfunktion und dem Personalmanagement eine wichtige Beratungs- und Unterstützungsfunktion, und daran werden wir sowohl von den Schulen als auch von unseren Partnerinnen und Partnern in den Städten und Gemeinden gemessen.
Hintergrund
> Frank Schäfer hat an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg Lehramt für Grund- und Hauptschulen studiert. Der Diplom-Pädagoge wechselte nach ersten Stationen als Lehrer in Mannheim und Stuttgart im Jahr 1995 an das Kultusministerium. Dort war er maßgeblich an einem
> Frank Schäfer hat an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg Lehramt für Grund- und Hauptschulen studiert. Der Diplom-Pädagoge wechselte nach ersten Stationen als Lehrer in Mannheim und Stuttgart im Jahr 1995 an das Kultusministerium. Dort war er maßgeblich an einem Personalentwicklungskonzept für Schulleitungen und an der Entwicklung eines Lehrerleitbildes beteiligt. 2002 übernahm er Aufgaben der Schulaufsicht und -verwaltung im Staatlichen Schulamt Heidelberg, ab 2006 beim Rhein-Neckar-Kreis. Mit dem Zusammenschluss der vier ehemaligen nordbadischen Schulämter zum Staatlichen Schulamt Mannheim wechselte Schäfer 2009 in die Quadratestadt. Als Personalratsvorsitzender wirkte er an der Fusion mit. 2013 war er stellvertretender Amtsleiter geworden, bevor er Nachfolger von Amtsleiter Hartwig Weik wurde, der im Februar in Ruhestand ging. Frank Schäfer stammt aus Mannheim, ist verheiratet und hat einen Sohn. cab
Wie organisieren Sie die Beschulung der geflüchteten Kinder und Jugendlichen?
Seit der ersten Flüchtlingswelle im Jahr 2014 haben wir Ansprechpartnerinnen und –partner bei den Landkreisen Rhein-Neckar und Neckar-Odenwald sowie in Heidelberg und Mannheim. Wenn hier Unterkünfte für Geflüchtete geplant werden, ist das schon ein Weckruf an uns. Wir gehen dann in Zusammenarbeit mit den Schulträgern und Schulleitungen in einen Planungsprozess, der sowohl Räumlichkeiten wie auch Personal berücksichtigt. Ziel ist die Organisation einer Beschulungssituation, die nicht nur von den Ressourcen her gedacht und geplant wird, sondern auch pädagogische und soziale Aspekte berücksichtigt. Und wir müssen immer im Blick haben, ob dort auch künftig ausreichend Kapazitäten zur Verfügung stehen. Noch reicht das Platzangebot aus. Aber wir möchten auch handlungsfähig bleiben, wenn plötzlich eine große Zahl Geflüchteter an einem Standort zu uns kommt. Dann gilt es weitere Modelle zu entwickeln, es könnte dann auch notwendig sein, dass Unterricht auch außerhalb von Schule stattfindet. Letztendlich ist es ein Zusammenspiel aller Akteure.
Wie viele Kinder und Jugendliche wurden bislang in den Schulen Ihres Verantwortungsbereichs aufgenommen?
Wir haben bislang rund 250 Schülerinnen und Schüler an Schulen aufgenommen – etwas mehr Grundschulkinder als im Bereich der weiterführenden Schulen. Allen können wir aktuell Unterricht anbieten. Anders als in der Flüchtlingskrise 2014/15 können wir auf bestehende und gut funktionierende Strukturen zurückgreifen. Wir haben in den Städten und Gemeinden 70 Ansprechpartnerinnen und -partner und die Geschäftsführenden Schulleitungen. Aktuell sind viele "Settings" zu beobachten. Neben dem Fernlernen, das bemerkenswerterweise durch Lehrkräfte aus der Ukraine angeboten wird, besuchen aber die meisten Kinder und Jugendlichen unsere Vorbereitungsklassen, in denen ihnen Deutschkenntnisse vermittelt werden, aber auch der ganz normale Alltag, zum Beispiel: Wie gehe ich zum Bäcker und kaufe mir eine Brezel? Viele der Kinder können aber schon unsere Regelklassen besuchen. Darüber hinaus gibt es sehr bemerkenswerte Initiativen, wie bspw. pensionierte Lehrkräfte, die jetzt schon nachmittags den Kindern Deutschunterricht anbieten.
Haben wir genug Lehrer?
Für den Einflussbereich des Staatlichen Schulamts Mannheim und die betreffenden Schulen kann ich sagen, dass die Lehrerversorgung momentan angespannt, aber noch ausreichend ist. Sowohl das Kultusministerium wie auch das Regierungspräsidium unterstützen uns sehr mit flexiblen Möglichkeiten Angebote an den Schulen einzurichten. Aber nach wie vor sorgt die Corona-Pandemie für entsprechende Ausfällen, und wir wissen nicht wie sich die Flüchtlingsströme entwickeln. Wir sind in enger Abstimmung mit dem Regierungspräsidium Karlsruhe und können befristet Lehrerstellen ausschreiben. Wir hoffen auch darauf, dass sich unter den Geflüchteten aus der Ukraine Lehrkräfte befinden – wir konnten schon einzelne ausfindig machen. Auch haben wir Bestandslehrkräfte mit ukrainischen Wurzeln. Und wie immer sind an den unterschiedlichen Standorten Einzelfallentscheidungen zu treffen. Man muss auf jede Situation reagieren. Zum Beispiel kommt nach Weinheim ja quasi ein ganzes Kinderheim mit ukrainischen Waisen.
Wie soll da eine Beschulung funktionieren? Viele Räume werden in Weinheims Schulen sicher nicht leer stehen.
Speziell in diesem Fall müssen wir mit der Stadt als Schulträger sprechen. Wenn man außerhalb von Schulen unterrichtet ist vieles zu berücksichtigen – zum Beispiel auch der Brandschutz. Und vielleicht müssen wir hier aufgrund fehlender Raumkapazitäten umgekehrt vorgehen und die Lehrkräfte zu den Schülerinnen und Schülern bringen und nicht die Kinder in die Schulen.
Das klingt pragmatisch.
Ohne Flexibilität und Pragmatismus von ganz vielen Menschen – und hier schließe ich ausdrücklich die vielen engagierten Schulleitungen, die Städte und Gemeinden und natürlich auch die Eltern mit ein, hätten wir die letzten zwei Jahre Pandemie nicht stemmen können. Merkmal einer Krise ist es ja, dass sich eben nicht alles detailliert regeln oder vorhersehen lässt. Und oft gibt es eben auch nicht die eine Generallösung. Entscheidend ist, dass man den Einzelfall betrachtet und dann auf Grund von Sachlagen und Argumenten zu einer gemeinsamen Vorgehensweise kommt.
Herr Schäfer, erlauben Sie mir den Einschub, aber Sie wirken in unserem Gespräch fast schon überraschend positiv, ruhig und zuversichtlich.
(lacht) Eine wichtige Voraussetzung für meine Tätigkeit ist, dass Sie gerne mit Menschen in unterschiedlichen Kontexten zusammen arbeiten. Das ist auch eine wichtige Voraussetzung für das Agieren in einer Krise und von großem Vorteil. Und Wertschätzung und respektvoller Umgang haben dabei für mich einen ganz großen Stellenwert. Ich behandele meine Kolleginnen und Kollegen so, wie ich selbst gerne behandelt werden möchte. Handlungsleitend sind für mich auch die drei "M" der Menschenführung: Führungskräfte "müssen Menschen mögen". Das gilt gerade auch für Schulleitungen und unser Team der Schulrätinnen und Schulräte. Und in der aktuellen Situation gilt das, was man von erfahrenen Kapitänen lernen kann: ein erfahrener Kapitän redet niemals einen aufziehenden Sturm schön und beordert auch nicht alle an Deck und verteilt panisch Schwimmwesten. Er erwartet den Sturm und unvorhergesehene Probleme und begegnet ihnen wach, konzentriert, gut vorbereitet und gelassen. Die konsequente Steigerung der Hektik ist die Panik – und die ist nicht ratsam, als Verantwortungsträger müssen wir eine vernünftige Planung auf den Weg bringen. Und außerdem gibt es andere, ohne die diese Krisen und Herausforderungen gar nicht so zu bewältigen wären.
Die Schulleitungen und Lehrkräfte?
Richtig! Ihnen allen gebührt ein riesiges Lob und ein großes Dankeschön! Es ist für Außenstehende kaum vorstellbar, was sie seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie geleistet haben – sowohl organisatorisch tagtäglich wie auch im Unterricht. Wir haben so viel Engagement, Leidenschaft und Herzblut wahrgenommen und dies alles vor einer stets verschärften Personalsituation. Das waren und sind noch enorme Belastungen. Unsere Schulen waren schon krisengeschüttelt, und jetzt könnte eine weitere Herausforderung dazu kommen.
Man kann sich nicht vorstellen, was in den Kindern und Jugendlichen nach ihrer Fluchterfahrung vorgeht. Den Schulen und Lehrkräften verlangt die Situation auch viel Einfühlungsvermögen ab. Was heißt das für den Unterricht?
Es gilt ein pädagogischer Grundsatz: Kinder und Jugendliche dort abzuholen, wo sie stehen. Unsere Wahrnehmung ist die, dass viele Schulen das sehr gut machen. Kinder brauchen eine Tagesstruktur, Beschäftigung, und sie wollen ein soziales Umfeld, was sie motiviert, Neugier erzeugt und ihnen Spaß und Freude bereitet. Viele Familien wünschen sich Ablenkung und Normalität – so die Rückmeldung an uns. Auch diese Situation ist nicht ganz neu und wir können auf Erfahrungen von 2014/15 zurückgreifen. Es geht im Unterricht der Vorbereitungsklassen vor allem um Ankommen, Sprache, Integration und die Bewältigung von Alltagssituationen – und dies angstfrei und in einer ansprechenden Atmosphäre.
In jüngster Zeit wird viel über Lockerungen diskutiert. Wie sehen Sie das persönlich für den Schulbereich?
Für uns steht der Gesundheitsschutz für die uns anvertrauten Schülerinnen und Schüler sowie die Gesundheit der Lehrkräfte über allem! Das ist schon seit Beginn der Pandemie so. Leider steigen seit den Faschingsferien die Zahlen wieder signifikant. Bisher haben unsere vorgesetzten Stellen immer diese Entwicklungen berücksichtigt. Jeder wünscht sich ein Lernen ohne Maske und Normalität auch im Unterricht. Aber wir sollten notwendige Schutzmaßnahmen im Bedarfsfall aufrecht erhalten. Dazu zählen auch die Möglichkeiten der Kohortenbildung und des Fernlernens.
Gerade auch die Grundschüler haben unter den Einschränkungen des Schullebens in der Pandemie besonders zu leiden gehabt in den vergangenen zwei Jahren. Die jüngsten hatten einen denkbar schweren Einstieg ins Schulleben. Wie kann man das aufholen?
Aufgrund der Rückmeldungen von Schulen gehen wir davon aus, dass viele Grundschulkinder – vor allem die leistungsschwächeren – etwa ein halbes Jahr im Rückstand sind, die weiterführenden Schulen etwa drei, vier Monate. Und wir glauben, dass mittel- und langfristig vieles aufgeholt wird. Aber wir müssen uns anstrengen. Es ist ein Aufholprozess, der alle Schularten betrifft und auch nicht in einem Schuljahr realisiert werden kann. Alle Schulen haben über die Programme des Kultusministeriums ein wirklich beeindruckendes finanzielles Budget, um Angebote über den regulären Unterricht hinaus einzukaufen. Die Möglichkeiten sind also gegeben. Dabei geht es nicht nur um Deutsch und Mathematik, sondern auch um Angebote im sozial-emotionalen Bereich.
Wie weit sind die Schulen im Einflussbereich des Staatlichen Schulamts Mannheim im Digitalisierungsprozess?
Die Pandemie hat diesen Prozess stark beschleunigt, wir haben da in den vergangenen zwei Jahren an vielen Standorten einen "Quantensprung" erlebt. Natürlich gibt es auch Schulen, in denen noch Luft nach oben besteht – wobei dies nicht immer an den Schulen selbst liegt. Aber es wäre naiv, in so kurzer Zeit flächendeckende, umfassende Lösungen zu erwarten. Wir sind auf einem guten Weg, und alle haben erkannt, dass die Digitalisierung der Schulen – und im Übrigen auch die der Schulverwaltung als unterstützendes System – letztendlich alternativlos ist. Die Qualität schulischer Bildung zeigt sich auch in der Digitalisierung unserer Schulen, und dabei geht es um eine Infrastruktur über die Schulen hinaus – schließlich hat nicht jeder W-LAN zu Hause. Ich möchte aber auch betonen, dass das digitale Lernen vor allem eine komplementäre, wichtige ergänzende Funktion hat. Die Digitalisierung ist nicht das universale Allheilmittel. Wichtige und unverzichtbare Lernprozesse zu Lesen, Rechnen und Schreiben vollziehen sich in der realen Begegnung mit einer Lehrkraft, die fachlich fundiert Lerngelegenheiten schafft, die Übungen anbietet, Kindern ermöglicht, Leistung als etwas positives zu erleben, die humorvoll ist und die mit den Kindern vor allem auch mal lacht.