Heidelberg

Wie sich Ex-Oberbürgermeister Neinhaus den Nazis anbiederte

Der Historiker Reinhard Riese über Carl Neinhaus. Sein Ehrengrab soll dennoch bleiben.

30.06.2021 UPDATE: 01.07.2021 06:00 Uhr 4 Minuten, 21 Sekunden
Carl Neinhaus inmitten von Sportlerinnen des Heidelberger Turnvereins (Datum der Aufnahme unbekannt). Obwohl Neinhaus auch während der NS-Zeit Oberbürgermeister war, wurde er 1952 von einer Mehrheit der Heidelberger erneut gewählt. Archivfoto: Ballarin

Von Denis Schnur

Heidelberg. Es ist eigentlich eine unscheinbare Begräbnisstätte auf dem Bergfriedhof. Doch weil der ehemalige Heidelberger Oberbürgermeister Carl Neinhaus in einem Ehrengrab der Stadt liegt, löst sie doch eine heftige Debatte aus. Schließlich war der Jurist NSDAP-Mitglied und während der NS-Zeit Stadtoberhaupt – einer Zeit, in der auch in Heidelberg grauenvolle Verbrechen begangen wurden. OB Eckart Würzner regte deshalb eine Studie zu seiner Person an. Einer der ersten Ansprechpartner dafür könnte Dr. Reinhard Riese sein. Der Historiker und ehemalige Lehrer des Bunsengymnasiums hat sich wissenschaftlich mit Neinhaus auseinandergesetzt. Im Interview erklärt der 77-Jährige, was man dem damaligen OB wirklich vorwerfen kann – und ob ihm ein Ehrengrab zusteht.

Reinhard Riese.Foto: Joe

Herr Dr. Riese, Sie haben für das Buch "Täter, Helfer, Trittbrettfahrer" einen Beitrag über Neinhaus geschrieben. In welche dieser Kategorien passt er denn?

So richtig in keine. "Täter" wäre zu viel, "Trittbrettfahrer" zu wenig. Und "Helfer" war er sicher nicht. Am besten beschreibt ihn das Wort "Opportunist". 1929 hatte er für die Weimarer Verfassung geworben, ab 1933 schwang er große ideologische Reden und ab 1950 betonte er wieder, dass zur Demokratie Rede und Gegenrede gehörten. In Ihrem RNZ-Artikel nannten Sie ihn "Chamäleon", das passt auch sehr gut.

Neinhaus war einer der wenigen Bürgermeister, den die Nazis im Amt ließen. War er wirklich kein Täter?

Auch interessant
Heidelberg: Stadt bereitet Gutachten zur Neinhaus-Würdigung vor (Update)

Man konnte ihm nie nachweisen, dass er aktiv an Verbrechen beteiligt war.

Aber er hat kurz vor der Ankunft der US-Armee Dokumente vernichten lassen.

Das stimmt. Aber man weiß nicht, welche das waren. Vermutlich ging es um Personalakten. Ich glaube nicht, dass es sich um etwas strafrechtlich Relevantes handelte.

War er denn ein Nazi?

Er war national und konservativ eingestellt, aber vor der Machtübernahme hatte er nichts mit der NSDAP zu tun. 1933 ist er wie viele andere eingetreten, wenn auch sehr früh. Aber er hat sich nicht als Antisemit hervorgetan, sondern umgesetzt, was die Nazis beschlossen hatten. 1946 sagte er in seiner Verteidigung: "An irgendwelchen Judenverfolgungen hat sich die Stadt nicht beteiligt." Musste sie ja nicht, weil es dafür etwa die SA gab. Er hat diese Verbrechen toleriert, aber innerlich von sich weggeschoben: Das war der SA-Haufen, er selbst war der feine Herr, der nach Recht und Gesetz gehandelt hat. Dabei hätte er ja eingreifen können. Es gab ja vergleichbare Fälle.

Deshalb ist ihnen die Bezeichnung "Trittbrettfahrer" zu schwach?

Ja – auch, weil Neinhaus sich den Nazis 1933 angebiedert hat. Weil er nicht wusste, ob er im Amt bleiben darf, hat er in vorauseilendem Gehorsam gehandelt. Er hat etwa angeordnet, dass die Stadt nur noch Aufträge an Christen vergibt. Da ist er vorangeprescht, obwohl niemand das von ihm verlangt hatte.

Er selbst hat sich nach dem Krieg anders gesehen – als Helfer der Verfolgten. Lässt sich das historisch belegen?

Ich habe mich lange mit ihm auseinandergesetzt, doch bei allen Recherchen bin ich nur auf zwei bis drei Fälle gestoßen, bei denen er geholfen haben könnte. Und auch da ist die Quellenlage dünn.

Aber nach Kriegsende gab es viele Entlastungszeugen für ihn. Hermann Maas rückte ihn in seiner Trauerrede 1965 sogar in die Nähe des Widerstandes.

Ja, das zeigt, dass es nicht nur die Konservativen waren, die ihn lobten. Aber Neinhaus mit dem Widerstand in Verbindung zu bringen, ist schon absurd.

Warum hat Maas es dann getan?

Gute Frage. Darüber habe ich mit anderen Historikern lange diskutiert. Wir können uns das nur mit seiner christlichen Vorstellung von Vergebung erklären.

Neinhaus selbst hatte sich auch immer wieder als Gegner der Nazis inszeniert.

Auch das ist skurril. Klar, er hatte Konflikte mit der NSDAP. Aber dabei ging es nie um Werte oder Moral, es ging ihm immer nur um seine Kompetenzen.

Dennoch ordnete ihn die Spruchkammer Heidelberg 1946 als "Mitläufer" ein.

Das Urteil passte in die milde Spruchpraxis der hiesigen Kammer, die von der US-Militärregierung gerügt wurde. Doch Neinhaus ging selbst das zu weit: Während die meisten mit einem solchen Urteil zufrieden waren, ging er 1949 in ein Berufungsverfahren.

Wo er als "entlastet" eingestuft wurde.

Das war wohl der geänderten politischen Großwetterlage geschuldet. Man wollte die Entnazifizierung schnell abschließen. Aber wenn man sieht, dass Neinhaus nicht mal Mitläufer gewesen sein soll, denkt man sich: Das darf doch nicht wahr sein.

Hat er sich je entschuldigt für die Verbrechen, die während seiner Amtszeit in Heidelberg geschahen?

Nein. Ein Wort des Bedauerns kam ihm nie über die Lippen. Im Gegenteil: Nach 1945 hat er sich sogar selbst als Opfer dargestellt, weil die Amerikaner ihn aus dem Dienst entlassen hatten.

Abgesehen von seinem Verhältnis zu den Nazis: Wie war Neinhaus als Politiker und Mensch?

Als Bürgermeister genoss er viel Anerkennung – auch beim politischen Gegner. Als Mensch war er ein Opportunist, dem es vor allem um sich selbst – und um die Stadt – ging. Ich befasse mich schon seit Jahren mit ihm und muss sagen: Sympathisch war er mir nie. Am besten brachte es vielleicht der Philosoph Karl Jaspers auf den Punkt. Der sagte über Neinhaus: "Er war ein typischer Mitläufer und unbedeutender Charakter, aber ein tüchtiger Bürgermeister."

Und gebührt einem solchen Charakter Ihrer Meinung nach ein Ehrengrab?

Das ist eine schwierige Frage. Als Historiker ist es meine Aufgabe, Fakten zu recherchieren und darzustellen – nicht zu richten. Generell ist es erst einmal schön, dass es eine Diskussion über die nahe Heidelberger Geschichte gibt. Das ist immer gut, auch wenn sie zum Teil emotional, undifferenziert und negativ geführt wurde.

Inwiefern?

Da heißt es dann schnell: Neinhaus war Nazi und muss weg. Aber so einfach ist es ja nicht. Außerdem würde ich mich der Liste der Ehrengrab-Inhaber gerne auch von anderer Seite nähern.

Wie meinen Sie das?

Mich wundert, dass nur diskutiert wird, ob jemand weg sollte, sich aber niemand zu Wort meldet und kritisiert, dass es manche andere Heidelberger gibt, die ein solches Ehrengrab verdient hätten. Helferinnen und Helfer wie Hermann Maas etwa, Marie Baum und Marie Clauss sind in Heidelberg beerdigt, haben aber kein Ehrengrab. Ich würde die Liste also gerne erweitern.

Wenn nun aber der Gemeinderat darüber entscheiden sollte, ob Neinhaus von der Liste gestrichen werden soll – und ein Stadtrat bittet Sie um eine Einschätzung. Was würden Sie ihm sagen?

(lacht) Dass es eine schwierige Frage ist ... Ich glaube, dass man der Geschichte durch Auslöschung von Namen nicht gerecht wird. Aber in dem Fall ist das Dumme, dass es um ein Ehrengrab geht – also eine besondere Auszeichnung. Würde man heute darüber diskutieren, ob man Neinhaus diese Ehre erweist, würde ich sagen: Auf keinen Fall! Bei der Debatte um die Aberkennung drücke ich mich ein wenig um die Antwort, wie Sie merken. Da gibt es natürlich viele Argumente dafür ...

Aber?

Trotzdem wäre mir lieber, wenn das Ehrengrab bleiben würde. Nicht, weil ihm die Ehre gebührt. Sondern weil ich es gut finde, wenn man in solchen Listen Stachel hat, die die Diskussion befördern. Gerade dieses unrühmliche Kapitel der Stadtgeschichte dürfen wir ja nicht unter den Tisch kehren.

(Der Kommentar wurde vom Verfasser bearbeitet.)
(zur Freigabe)
Möchten sie diesen Kommentar wirklich löschen?
Möchten Sie diesen Kommentar wirklich melden?
Sie haben diesen Kommentar bereits gemeldet. Er wird von uns geprüft und gegebenenfalls gelöscht.
Kommentare
Das Kommentarfeld darf nicht leer sein!
Beim Speichern des Kommentares ist ein Fehler aufgetreten, bitte versuchen sie es später erneut.
Beim Speichern ihres Nickname ist ein Fehler aufgetreten. Versuchen Sie bitte sich aus- und wieder einzuloggen.
Um zu kommentieren benötigen Sie einen Nicknamen
Bitte beachten Sie unsere Netiquette
Zum Kommentieren dieses Artikels müssen Sie als RNZ+-Abonnent angemeldet sein.