Schulpolitik

"Die Kluft ist durch die Pandemie größer geworden"

Bildungsforscher Klein über Schulschließungen, Corona-Lernlücken und Nachholprogramme.

15.06.2021 UPDATE: 16.06.2021 06:00 Uhr 3 Minuten, 5 Sekunden
August 2020: In den Räumen einer Grundschule in Hemmingen zwischen Leonberg und Ludwigsburg gibt es Ferienkurse für Kinder, die besondere Lücken aufzuholen haben. Auch für diesen Sommer plant die Landesregierung wieder „Lernbrücken“. Archiv-Foto: Gollnow / lsw

Von Axel Habermehl, RNZ Stuttgart

Stuttgart. Günter Klein (61) soll die schulpolitischen Entscheidungsträger im Land mit Daten versorgen. Das ist der Job des Direktors des Instituts für Bildungsanalysen (IBBW). Das IBBW untersteht dem Kultusministerium, hat rund 120 Mitarbeiter und war 2019 eines der wichtigsten Reformprojekte der damaligen Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU). Klein, früherer Lehrer, stellvertretender Schulleiter und Schulamtsleiter, führte seit 2015 das Landesinstitut für Schulbildung, das im IBBW aufging.

Herr Klein, wie viel Unterricht ist wegen Corona ausgefallen?

Das ist sehr unterschiedlich und es gibt dazu keine abschließenden Informationen. Grundsätzlich konnten Lehrer durch Fern- und Wechselunterricht in hohem Maß Unterricht realisieren und dieser Fernunterricht ist durch Erfahrungsgewinn qualitativ immer besser geworden.

Viele Schüler empfanden Fernunterricht eher als Krücke. Mal andersherum gefragt: Wie viel Inhalt, wie viel Lernstoff wurde verpasst?

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Lassen Sie es uns vom Ende her betrachten: Welche Lernrückstände haben Schüler aufgebaut? Die Antwort lautet wieder: Das ist sehr unterschiedlich. Es wird Schülerinnen und Schüler geben, bei denen wir keine Rückstände feststellen. Einige haben sogar größere Fortschritte gemacht als in "normalen" Jahren. Es wird aber auch Schüler geben, deren Möglichkeiten zum Lernen begrenzt waren und bei denen wir Rückschritte sehen.

Für wie groß halten Sie den Anteil dieser stark Betroffenen?

Wir sollten von einer Größenordnung von etwa 20, vielleicht 30 Prozent ausgehen. Denn wissenschaftliche Erkenntnisse – unter anderem aus der IGLU- oder PISA-Studie – deuten auf diese Größenordnung hin, wenn es um sogenannte Risikoschüler geht. Daher kann dies als Richtwert dienen. Um diese Gruppe muss man sich besonders kümmern, genau hinschauen, welche Entwicklungen die Kinder und Jugendlichen vollzogen haben, und wo es fehlt. Und wir sollten mit allen – Schülern, Eltern, Lehrkräften – besprechen, welche Erfahrungen sie während der Pandemie gemacht haben.

Wen erwischte Corona am härtesten?

Vor allem jene Klassen, die von Mitte Dezember bis jetzt keinen Präsenzunterricht hatten. Ihnen fehlte über Monate die Struktur der Schule. Der Verlust alltäglicher Begegnungen mit Freunden, Mitschülern, Lehrern ist das eigentliche Drama. Viele soziale Erfahrungen, die für das Aufwachsen eines Menschen eminent wichtig sind, fielen einfach aus. Das macht mir fast noch mehr Sorgen als Lernrückstände.

Wie sollten Schulen damit umgehen?

Die Ankommens-Phase wird ganz wichtig. Schüler müssen in strukturiertes, geregeltes Lernen zurückfinden und soziale Netze neu festigen. Vor allem sollten wir ihnen Mut machen, dass sie etwaige Rückstände gut aufholen können und ihnen der Weg zu einem erfolgreichen Bildungsverlauf offensteht. Ganz besonders sollten wir ihnen klarmachen, dass sie sich darauf verlassen können, viel Unterstützung zu bekommen. Außerdem sollte es Zeit geben, Erfahrungen der Corona-Monate zu verarbeiten – gerade die schwierigen, belastenden. Dabei kann auch der Kontakt zu Beratungslehrern und Schulpsychologen sehr wertvoll sein.

Günter Klein. Foto: zg/KM

Wie wird nun individuell festgestellt, wie groß die Rückstände sind?

Lehrer kennen ihre Schüler meist sehr gut, teils seit Jahren, und sind dafür ausgebildet wahrzunehmen, wo Schwächen liegen oder Lücken entstanden sind. Das ist Alltagsgeschäft von Lehrern. Ergänzend dazu gibt es verpflichtende Lernstandserhebungen: In der Jahrgangsstufe 5 heißt das "Lernstand 5", in den Klassen 3 und 8 gibt es "Vera 3" und Vera 8". Das sind empirisch abgesicherte diagnostische Verfahren, die verlässliche Hinweise geben, welche Kompetenzen Schüler haben. Die "Vera"-Tests wurden dieses Schuljahr verschoben und finden nun im Herbst statt. Wir als IBBW werden darüber hinaus für alle Stufen Instrumente anbieten, die Lehrer freiwillig einsetzen können, um festzustellen: Wo stehen meine Schüler? Es ist also durchweg möglich, den Lernstand festzustellen, um dieses Wissen für das Ankommen und Reduzieren von Lernlücken im Sinne der Kinder und Jugendlichen einzusetzen.

Welche Ergebnisse erwarten Sie von "Lernstand 5" dieses Jahr?

Ich rechne damit, dass es im unteren Leistungssegment gewisse, aber keine dramatischen Rückstände geben wird. Ich gehe außerdem davon aus, dass Schüler aus sozial schwächeren Familien größere Lücken haben. Es gab schon immer einen klaren Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg. Diese Kluft ist durch die Pandemie größer geworden, das wissen wir aus Studien. Deshalb müssen das kompensatorische Maßnahmen, die nun geplant werden, berücksichtigen.

Wie sehen diese Maßnahmen aus?

Im Prinzip geht es um drei Phasen. Die erste hat begonnen, da geht es um die Zeit zwischen Pfingst- und Sommerferien. Im Programm "Bridge the Gap", einer Kooperation von Kultus- und Wissenschaftsministerium, unterstützen 550 freiwillige Lehramtsstudenten im Unterricht.

Und die Phasen zwei und drei?

In den Sommerferien finden erneut die Programme "Lernbrücken" und "Sommerschulen" statt. Hier wird es gezielte Lernangebote geben, aber auch musische, sportliche und künstlerische Angebote – auch um die sozial-emotionale Komponente anzusprechen.

Im Herbst beginnt "Rückenwind", ein großes Förderprogramm, das Bund und Länder gemeinsam auf die Beine stellen. Es ermöglicht über zwei Jahre Unterstützung für besonders betroffene Schüler. Zusätzliche Mentoren werden Lehrkräfte im Regelunterricht unterstützen, aber auch außerhalb des Unterrichts ergänzende Angebote machen. Auch dazu wird im Land spezielles Material erarbeitet, und die Mentoren werden geschult.

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