Leichtsinn statt Umsicht?
Winfried Kretschmanns Ankündigung, Grundschulen öffnen zu wollen, brachte ihm viel Kritik ein. Dabei waren andere schneller.

Von Sören S. Sgries
Heidelberg/Stuttgart. Stundenlang hatten die Ministerpräsidenten am vergangenen Dienstag mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) diskutiert. Wichtigster Streitpunkt: Wie umgehen mit Schulen und Kitas? Merkel, die auf anhaltende Schließungen drängt, wird in der Debatte sogar einmal lospoltern: "Ich lasse mir nicht anhängen, dass ich Kinder quäle." So berichten es Teilnehmer hinterher. Kaum steht dann der gemeinsame Beschluss, die Schließungen bis Mitte Februar zu verlängern, tritt Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann vor die Kameras. Ab dem 1. Februar, kündigt der Grüne an, sei es sein Plan, Kitas und Grundschulen "vorsichtig, Schritt für Schritt wieder zu öffnen, wenn die Infektionslage dies zulässt".
"Selbstverständlich war die Kanzlerin nicht erfreut, was wir in Baden-Württemberg jetzt machen", sagt Kretschmann später bei einer Sondersitzung des Landtags. Und auch in den sozialen Netzwerken, in vielen Presseberichten steht der Südwest-Regierungschef als einer da, der die mühsam errungene Einigung aus wahltaktischen Gründen umgehend hinterfragt. Keine Rede mehr von der "Gemeinschaft der Umsichtigen" mit Merkel und dem bayerischen Amtskollegen Markus Söder, die im Frühjahr für harte Maßnahmen eintrat. Stattdessen Leichtsinn in der Villa Reitzenstein. Oder?
Der Blick auf die Fakten zeigt ein etwas differenzierteres Bild. So heißt es im gemeinsamen Beschluss: "Danach bleiben die Schulen grundsätzlich geschlossen bzw. die Präsenzpflicht ausgesetzt." Die Präsenzpflicht aber ist an baden-württembergischen Schulen bereits seit dem Juli 2020 ausgesetzt – und soll auch vorerst nicht wieder in Kraft treten. Wenn Kretschmann also im Parlament betonte, man gehe keinen "Sonderweg", sondern bleibe im Rahmen der Beschlüsse – dann stimmt das zunächst.
Ein zweiter Punkt: Wer über die Ländergrenzen schaut, der sieht schnell, dass Baden-Württemberg bisher einen vergleichsweise restriktiven Kurs in Schulen und Kitas fährt. Auch Kretschmann verwies im Landtag darauf, als er betonte, bisher angesichts der Infektionslage immer gegen Öffnungen gewesen zu sein: "Im Gegensatz zu sehr vielen anderen Bundesländern, deren Grundschulen und Kitas jetzt bereits geöffnet sind."
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Seit dem 16. Dezember sind die Einrichtungen geschlossen, unterrichtet wird im Fernunterricht – digital oder mit Lernmaterialien. Ausnahmen gibt es für Abschlussklassen, die in Präsenz unterrichtet werden dürfen, "sofern dies zur Prüfungsvorbereitung zwingend erforderlich ist". Und auch die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) dürfen den Regelbetrieb unter Pandemiebedingungen fortführen. Auch hier gibt es aber keine Verpflichtung zur Teilnahme am Präsenzunterricht.
Für die Kitas gilt: Nur Notbetreuung ist erlaubt. Anspruch haben Kinder, deren Eltern zwingend auf eine Betreuung angewiesen sind. Bescheinigt werden muss das laut Verordnung zwar nicht. In der Praxis fordern viele Einrichtungen aber schriftliche Bestätigungen der Arbeitgeber ein.
Das sieht in anderen Bundesländern ganz anders aus. So werden beispielsweise in Rheinland-Pfalz und Hessen die Eltern lediglich "gebeten", ihre Kinder nicht in die Kitas zu schicken. Nachweise über einen besonderen Betreuungsbedarf sind nicht notwendig. Auch in Nordrhein-Westfalen belässt es der zuständige Minister bei einem "Appell" an Eltern, die Kinderbetreuung selbst zu übernehmen. Ansonsten gibt es einen eingeschränkten Regelbetrieb.
Auch bei den Grundschulen sind die Vorgaben in vielen anderen Ländern lockerer als in Baden-Württemberg. In Hessen können Schüler bis Klasse 6 weiterhin in den Unterricht gehen – auch wenn darum gebeten wird, dass Kinder möglichst zuhause im Fernunterricht betreut werden. In Niedersachsen oder Mecklenburg-Vorpommern haben die Grundschulen bereits im Wechselunterricht wieder auf – so wie es in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz erst ab 1. Februar angedacht ist. Käme es zu einer solchen Entscheidung, würde Baden-Württemberg also nicht im Alleingang lockern – sondern den Kindern nur das ermöglichen, was in anderen Bundesländern schon längst erlaubt war.
Und auch sonst steht Baden-Württemberg nicht unbedingt als "Hallodri" unter den Bundesländern da. Das zeigt sich beispielsweise bei der nächtlichen Ausgangssperre, über die bundesweit diskutiert, die aber dann doch nicht beschlossen wurde. Im Südwesten wurde sie ursprünglich für Landkreise mit einer 7-Tage-Inzidenz über 200 eingeführt. Seit dem 12. Dezember gilt sie aber landesweit zwischen 20 und 5 Uhr. Ähnlich streng handhaben es noch Bayern (21-5 Uhr) und die meisten ostdeutschen Bundesländer.
Ein wenig großzügiger zeigt sich die Landesregierung dafür bei anderen Maßnahmen. So gibt es bislang keine 15-Kilometer-Regel, die den Bewegungsradius bei zu hohen Infektionszahlen einschränken würde. Angesichts sinkender 7-Tage-Inzidenzen sah man dazu bislang keinen Anlass.
Bei den Kontaktbeschränkungen gilt im Südwesten einerseits die scharfe Regel, wonach nur ein Treffen mit einer anderen Person, die nicht im eigenen Haushalt lebt, erlaubt ist. Und diese Vorgabe gilt explizit auch für den privaten Raum – Hessen beispielsweise regelt hier nichts, sondern schränkt nur den öffentlichen Aufenthalt ein. Andererseits nimmt Baden-Württemberg Kinder bis einschließlich 14 Jahren davon aus. In anderen Bundesländern gilt das nur für Kleinkinder bis drei (Bayern) oder sechs Jahren (Rheinland-Pfalz).



