Weinheim

Irene Kemens Studio ist fast viereinhalb Jahrzehnte aus der Reihe getanzt

Mit der Schließung des Studios für Tanz von Irene Kemen endet ein Stück Weinheimer Kulturgeschichte

20.08.2020 UPDATE: 21.08.2020 06:00 Uhr 3 Minuten, 27 Sekunden
Irene Kemen: Für sie ist Tanz nicht nur Bewegung, sondern immer auch Philosophie. Foto: zg

Von Peter Wiest

Weinheim. Schönere Komplimente kann man kaum bekommen für seine Arbeit. "Irene und ihr wertvoller Unterricht haben mich geerdet, strukturiert, mir Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl gegeben", schreibt eine ehemalige Schülerin. Im Studio von Irene Kemen habe man über das Tanzen "ganz viel Selbstvertrauen in allen – auch schwierigen – Lebenslagen geschöpft", so eine andere. Die Tanzpädagogin habe dort "in sehr vielen Kinderherzen Spuren hinterlassen, denn sie hat in diesem Studio ihre ganze Leidenschaft und ihre Passion gelebt", so eine weitere frühere Schülerin. Und die aus der Arbeit im Studio resultierenden öffentlichen Ballett-Aufführungen wie beispielsweise das "Aschenputtel" hätten nicht nur beim Publikum bleibende Erinnerungen hinterlassen: "Der Abend der Aufführung von ‚Aschenputtel‘ ist mir noch heute als einer der wichtigsten meines ganzen Lebens in Erinnerung", so ein weiteres Schreiben.

Post wie diese hat Irene Kemen in den zurückliegenden Tagen häufig bekommen: teilweise überschäumende Komplimente für ihre jahrzehntelange Arbeit; stets geprägt allerdings auch ein bisschen von Spuren der Melancholie. Denn seit dem 31. Juli ist das Studio für Tanz in der Stadtmühlgasse Geschichte: Die Tanzpädagogin hat es nach fast 44 Jahren geschlossen. Damit geht ein Stück Geschichte zu Ende, das nicht nur das kulturelle Leben in der Zweiburgenstadt mit geprägt hat, sondern das auch unzähligen Tänzerinnen und Tänzern in der Tat etwas gegeben hat, was ihr Leben in ganz besonderer Weise geprägt hat – und das keine und keiner von ihnen auch nur im Entferntesten missen möchte.

Das war Irene Kemens Spezialität: die Ballettaufführungen, wie hier 2013 die Jubiläumsinszenierung von „Nussknacker“. Foto: zg

Irene Kemen selbst ist die Wehmut über die Schließung ihres Studios ebenfalls ein bisschen anzumerken – auch wenn sie sofort betont, dass sie sich keineswegs in Trauer darüber ergeben wolle, sondern mit immenser Freude auf das zurückblicke, was sie mit ihrer Arbeit die vergangenen Jahre geleistet und im wahrsten Sinn des Wortes auf die Beine gestellt hat. "Ich habe mit meinem Studio und den Tänzern dort mein ganzes bisheriges Leben so viel Freude gehabt – dafür bin ich einfach nur dankbar", sagt sie. Aber warum hat sie dann das Studio überhaupt geschlossen? "Aus Altersgründen" habe sie einen solchen Entschluss schon länger anvisiert, sagt sie. Letztlich jedoch seien jetzt die Coronakrise und ihre Folgen ausschlaggebend dafür gewesen, dass dieser Entschluss dann auch in die Tat umgesetzt wurde: "Und zwar deshalb, weil die Lockdown-Maßnahmen meiner Auffassung von Tanz und Tanzpädagogik diametral entgegenstehen." Zwar dürfe seit den Lockerungen auch wieder getanzt werden: "Aber die dafür vorgesehenen Regeln des Tanzverbandes sind nun mal sehr streng. So dürfen beispielsweise keine wirbelnden und konditionellen Bewegungen erfolgen, und es muss sogar auf dem zugeteilten Raum beim Eintritt eine Maske getragen werden." Nach ihrer Vorstellung sei Tanz so kaum möglich: "Dadurch wird das, was ich mir unter Tanzen vorstelle, eher sogar zerstört."

Hintergrund

Weinheim. (wit) Fast 44 Jahre lang war das Studio für Tanz von Irene Kemen in Weinheim der Inbegriff des Tanzes schlechthin – von Anfang an. Am 28. Februar 1977 eröffnete Kemen am Marktplatz ihr erstes Studio. Bereits ein Jahr später erfolgte eine erste öffentliche Aufführung

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Weinheim. (wit) Fast 44 Jahre lang war das Studio für Tanz von Irene Kemen in Weinheim der Inbegriff des Tanzes schlechthin – von Anfang an. Am 28. Februar 1977 eröffnete Kemen am Marktplatz ihr erstes Studio. Bereits ein Jahr später erfolgte eine erste öffentliche Aufführung auf der Bühne des Rolf-Engelbrecht-Hauses. Die Resonanz der Tanzschüler war von Anfang an so groß, dass bald neue Räumlichkeiten gesucht und in der Alten Turnhalle im Ulner Stift auch gefunden wurden. Nach einer aufwendigen Umbauphase wurde dort am 7. April 1981 das neue Studio eröffnet. Den Festvortrag hielt dabei der Wormser Philosoph Professor Richard Wisser zum Thema "Vom Tanzen als Leitfaden leibhaften Kunst- und Weltverständnisses".

In den folgenden Jahren häuften sich öffentliche Veranstaltungen. Besonders ereignisreich war 1989 mit dem dritten großen Ballettabend "Tanz bewegt die Welt"; anschließend mit einem Auftritt in der Tübinger Museumsgesellschaft zum Thema "Höfische Tänze", die danach auch im Rahmen des ersten historischen Wochenendes in Weinheim gezeigt wurden; schließlich dann auch noch mit der Aufführung von "Pinocchios Abenteuern" beim ersten Weinheimer Kultursommer. Auch anderen Künstlern bot das Studio Gelegenheit, sich zu präsentieren; so etwa Barbara Thompson mit spanischem Tanz und Flamenco oder Ruth Becker, einer ehemaligen Schülerin, mit Modernem Tanz unter dem Titel "Innenräume".

Von 1997 bis 2001 ließ sich Irene Kemen zur Atemtherapeutin nach der Methode Ilse Middendorf ausbilden – "weil Tanz und Atem eine unzertrennliche Einheit bilden", wie sie bis heute sagt. 2001 eröffnete sie dann im Pförtnerhaus des Ulner Stifts eine Praxis für Atemtherapie. Ein weiterer Höhepunkt war 2002 der sechste Ballettabend "DanceDimension", der gleich zweimal in der vollbesetzten Stadthalle aufgeführt wurde. 2005 gab es den siebten Ballettabend unter dem Titel "(E)Motion and Movement", unter anderem mit dem Märchenballett "Peterchens Mondfahrt". Fünf Jahre später folgte der achte Ballettabend mit dem Titel "Du" und der bis heute unvergessen gebliebenen Neuinszenierung des Märchenballetts "Aschenputtel".

2012 wurde das 35-jährige Bestehen des Studios mit zahlreichen Veranstaltungen groß gefeiert, unter anderem mit der Compania Solera unter dem Titel "Getanzte Leidenschaft" sowie sogar mit der Einrichtung eines Kerwetreffs mit Namen "chezKemen" im Hof vor dem Studio. Ebenfalls unvergessen ist die Jubiläums-Inszenierung des "Nussknackers" beim neunten Ballettabend im Januar 2013. 2017 schließlich fanden anlässlich des 40-jährigen Studiojubiläums zwei Aufführungen direkt im Studio statt; zudem gab es einen Herbstworkshop mit Michelle Prelle von der Staatlichen Hochschule Mannheim.

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Und ein Ende dieser Regelungen sei schließlich in Anbetracht der Lage nicht absehbar: "Im Gegenteil, was noch kommen könnte, ist total besorgniserregend". Also habe sie sich für die Schließung des Studios entschieden: "Obwohl mich meine tanzpädagogische Arbeit ja wirklich glücklich gemacht hat, und die positive Resonanz bei all meinen Schülerinnen und Schülern nicht größer hätte sein können."

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Das endgültige Aus ist damit also für eine unglaubliche Erfolgsgeschichte des Tanzes und des Tanzens in Weinheim nach bald 44 Jahren besiegelt. Viele Weinheimer erinnern sich an die zahlreichen Ballettabende des Studios in der Stadthalle, wie etwa "Barock bis Pop", "Sprachen des Tanzes", "Tanz bewegt die Welt", "Taube mit Schuh", "Tanzen ist Antworten" oder an Märchen-Ballettaufführungen wie "Pinocchios Abenteuer", "Aschenputtel", "Nussknacker" oder "Peterchens Mondfahrt", die alle bis heute unvergessen geblieben sind. Sie waren jede für sich auf ihre Art einzigartig und alle zusammen geprägt durch Irene Kemens ganz persönliche Auffassung von Tanz und Tanzen und ihrem Verständnis von Tanzpädagogik.

Ein Bild aus den Anfangszeiten des Studios: eine Aufführung im Rolf-Engelbrecht-Haus.Repro: bk

Was dahinter steht, brachte sie bereits 1984 in einem Aufsatz in der von ihr herausgegebenen Broschüre "Sprachen des Tanzes" zum Ausdruck. "Wir sind zum Tanzen berufen, weil unser Leib, und das zeigt er im Tanz, ein Seismograf ist, der die Bewegungen dieser Welt und unserer selbst spürbar, sichtbar und verstehbar macht", zitiert sie darin den Philosophen Professor Richard Wisser, um dann weiter auszuführen: "Wesentlich ist nicht das Erreichen eines bestimmten Schönheitsideals tänzerischer Bewegung, sondern die Steigerung des Vertrauens in seine eigene leibliche Bewegtheit, die letztlich sowieso von eigener Schönheit ist."

Tanz und Tanzpädagogik, die man in diesem Sinne verstehe, dienten der Humanisierung des Menschen, so Irene Kemens Fazit, wenn sie darauf zurückblickt. Und in diesem Sinne sei ihr Studio für Tanz durchaus ein "Studio der Humanisierung" gewesen. All dies könne allerdings eine Digitalisierung der Welt, wie sie derzeit aufgrund der Coronakrise bereits teilweise erfolgt sei, im Bereich Tanz niemals leisten: "Das ist auch im besten Falle nur ein Surrogat, also ein behelfsmäßiger Ersatz."

Was aus dem Studio in der Stadtmühlgasse nach der Schließung wird, darüber haben sich Irene Kemen und ihr Mann Karl-Ludwig Kemen, der die tänzerische Arbeit seiner Frau von Anfang an unterstützte, begleitete und bei allen Aufführungen für die Öffentlichkeitsarbeit, das Design und die Realisierung der Bühnenbilder zuständig war, noch keine abschließenden Gedanken gemacht.

Zusammen werden sie sich in den kommenden Wochen jetzt erst mal in ihrem Haus in Hirschberg-Großsachsen zurücklehnen und immer wieder die zurückliegenden Jahre Revue passieren lassen: Nicht mit Wehmut, wie sie versichern, sondern stets mit Begeisterung und Freude an dem, was sie gemeinsam mit den vielen Tanzschülerinnen und Tanzschülern jahrzehntelang auf die Beine gestellt und realisiert haben.

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