Jeder Stolperstein ist ein Lernort für Demokratie
In Malsch wurden die ersten acht Stolpersteine verlegt - Gedenkstunde am Abend zuvor - Nachkommen der Opfer zu Gast

Malsch. (oé) Vor mehr als 75 Jahren sind ihre Stimmen "grausam zum Schweigen gebracht worden". Doch jetzt konnten die Besucher im voll besetzten Saal der Zehntscheuer diesen bewegenden Stimmen noch einmal lauschen. Eric Luftman las in der Gedenkstunde am Vorabend der ersten Stolperstein-Verlegung in Malsch aus den Briefen vor, die seine Großeltern Flora und Heinrich Hamburger während 17 Monaten der Jahre 1941/42 an ihre Tochter Ruth schrieben - seine spätere Mutter. Zwischen elf und zwölf Jahre war die einzige Tochter der Hamburgers damals alt. Die Eltern hatten sie schweren Herzens in ein Kinderheim gegeben, damit sie nicht länger im Internierungslager Gurs am Fuß der französischen Pyrenäen bleiben musste, wohin die Hamburgers zusammen mit Ruths Großeltern Isaak und Justine Hilb und anderen Malscher Juden im Oktober 1940 deportiert worden waren.
68 Briefe haben die Eltern an ihre Tochter geschrieben - jede Woche einen. Sie zeugen von der "verzweifelten Liebe" der Eltern zu ihrem einzigen Kind, auch von dem "verzweifelten Wunsch, wiedervereinigt und frei zu sein", so Eric Luftman. Doch auch von der dringenden Bitte der Eltern, ihre Tochter möge jede Chance nutzen, um mit einem Kindertransport in die USA zu kommen. "Wir gingen nicht ohne Dich, aber Du darfst ruhig vor uns fort", ermutigten sie die Tochter. Die Eltern ahnten wohl, dass ihr Kind nur in den USA wirklich sicher wäre. Nur weg von hier.
Anfang August 1942 bricht der Briefwechsel ab. Die Hoffnung der Eltern auf eine Ausreise in die USA erfüllte sich nicht mehr - trotz der fieberhaften Bemühungen, die Verwandte in den USA inzwischen eingeleitet hatten. Über das Zwischenlager Drancy bei Paris wurden die Eheleute Hamburger am 10. August nach Auschwitz deportiert: Flora Hamburger wurde wohl sofort in die Gaskammern geschickt. Heinrich Hamburger wurde am 4. September ermordet. Die Großeltern Isaak und Justine Hilb waren bereits in Gurs dem Schock und den Strapazen der Deportation erlegen. Ruth Hamburger überlebte Krieg und Holocaust - mit falschen Papieren und dank französischer Familien, die Ruth und andere jüdische Kinder während der bedrohlichsten Zeit auf ihren abgelegenen Bauernhöfen versteckten. 1947 gelangte Ruth 17-jährig in die USA, wo für sie ein neues Leben begann. Sie heiratete, bekam Kinder und Enkelkinder. Heute ist Ruth Luftman 88 Jahre alt.
In dem Deportationszug vom 10. August 1942 nach Auschwitz wurden neben den Eheleuten Hamburger auch andere Malscher Juden verschleppt: Für alle war es eine Reise in den Tod. So auch für Simon Heß und seine erwachsene Tochter Rosa. Doch deren achtjähriger Sohn Rolf war den Häschern da bereits entkommen. Er lebte zunächst im selben Kinderheim wie Ruth Hamburger, hatte auch Kontakt zu ihr und konnte zusammen mit 38 anderen Kindern am 25. Juni 1942 ein Schiff besteigen, das ihn nach Amerika brachte. Seine Mutter und sein Großvater konnten sich noch persönlich von ihm verabschieden. Auch Rolf Hess lebt heute mit seiner Familie in den USA.
Er und Ruth Luftman, geborene Hamburger, sind heute die beiden einzigen Überlebenden von jenen 15 jüdischen Mitbürgern Malschs, die am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert worden waren (drei starben noch in Gurs, eine in einem Pflegeheim, sieben wurden in Auschwitz ermordet und zwei, Ludwig und Klara Heß, überlebten den Holocaust in Frankreich, kehrten nach dem Krieg nach Malsch zurück und starben dort 1954 beziehungsweise 1960).
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Dass es die beiden Überlebenden Ruth Luftman und Rolf Hess gibt, haben der "Arbeitskreis jüdisches Leben in Malsch" und die daraus hervorgegangene Stolperstein-Initiative erst im Zuge ihrer Recherchen erfahren. Umso wichtiger war es deren Mitgliedern, mit den ersten "Stolpersteinen" an die Familien dieser beiden Überlebenden zu erinnern und die Opfer "gleichsam zu uns zurückzuholen", wie Ludwig Fröhlich und Tanja Becker-Fröhlich von der Initiative im Begleitheft zur Stolperstein-Verlegung schreiben.
Die beiden Überlebenden konnten an der Zeremonie und der Gedenkstunde selbst nicht teilnehmen. Ihr hohes Alter verhinderte die weite Reise. Rolf Hess und seine Familie waren aber bereits 2015 in Malsch zu Gast, als sich die Deportation nach Gurs zum 75. Mal jährte. Und Ruth Luftman schickte ihre drei Söhne, um an dieser "bemerkenswerten Veranstaltung" (Eric Luftman) teilzunehmen: Henry Luftman (mit seiner Ehefrau Patricia), Jack Luftman (mit Sohn Lee) und Eric Luftman (mit Tochter Sarit).
Den Besuch der Nachkommen bezeichnete Bürgermeisterin und Schirmherrin Sibylle Würfel als "große Ehre". Beide Familien sollten sich in Malsch "wieder aufgenommen fühlen". Sie sprach von einem "sehr bedeutenden Ereignis" für Malsch, die Erinnerungskultur bekomme mit den Stolpersteinen eine "neue Qualität". Zu Nummern degradierte Menschen bekämen ihre Namen zurück. Familien, die grausam auseinandergerissen wurden, würden symbolisch wieder vereint - und zwar an dem Ort, an dem sie zuletzt freiwillig lebten. Das betonte die Bürgermeisterin ebenso wie Ludwig Fröhlich von der Stolpersteininitiative. Beide unterstrichen auch die Notwendigkeit der Erinnerung und deren "Zukunftsdimension": wachsam zu bleiben und dafür zu sorgen, "dass wir in einer Gemeinde leben, in der alle Menschen Achtung, Freiheit und Sicherheit finden" und ihre Würde gewahrt bleibt, so Sibylle Würfel. Dabei erinnerte Ludwig Fröhlich daran, dass auch die monströsen NS-Verbrechen aus kleinsten Anfängen hervorgingen.
Den Opfern ihre Identität und "ihr Gesicht" zurückgeben - das will der Künstler Gunter Demnig mit seinem Stolperstein-Projekt. Und das will auch die Malscher Initiative mit der Stolpersteinverlegung und der sie begleitenden Broschüre. Dort sind die Ergebnisse einer jahrelangen akribischen Forschung zur jüdischen Geschichte Malschs (1885 lebten hier 123 Menschen jüdischen Glaubens) und zu den Familiengeschichten der Hilb/Hamburgers und Heß festgehalten. Hans-Georg Schmitz und Dr. Johannes Rott gaben Einblicke in diese Leben: etwa, dass die Familie Hilb/Hamburger angesehene Kaufleute waren, die ein über Malsch hinaus bekanntes Textilgeschäft führten; oder dass Simon Heß (VII) ein feiner Mann war, der mit Tierhäuten handelte, im Ersten Weltkrieg verwundet worden war und (vielleicht infolge der Verwundung) eine besonders aufrechte Körperhaltung hatte (sein Spitzname war "Kerzegrad"). Die Forscher erzählten aber auch von den Demütigungen, Anfeindungen und Verfolgungen, die diese Menschen seit 1933 erleiden mussten - am (bis dahin) schlimmsten in der Pogromnacht vom 9. November 1938, als SA-Leute auch in Malsch die Geschäfte plünderten und die Synagoge anzündeten. Selbst den Kindern blieb der Schrecken dieser Nacht unvergesslich.
Mit ihrer Arbeit haben die Mitglieder der Stolpersteininitiative nach Ansicht von Dr. Clemens Rehm etwas für die Demokratie und Menschenwürde sehr Wichtiges getan. Sie haben verhindert, dass diese Menschen nach ihrem biologischen Tod noch einen zweiten, endgültigen Tod sterben müssen: den des Vergessens. "Diese Veranstaltung arbeitet diesem zweiten, ewigen Tod entgegen", so Rehm. Dabei unterstrich der Abteilungsleiter im Landesarchiv Baden-Württemberg die Bedeutung gerade der Archive.
Denn Zeitzeugen sterben, sie können unterschiedliche Wahrheiten haben, Dinge ver- oder beschweigen. Hier kämen die Archive ins Spiel. Dort könne man etwas über Täter und Verantwortung erfahren und nachvollziehen, "wer was gemacht hat". Rehm nannte dies die "Systemrelevanz der Archive" in einem demokratischen Staat. Auch den Opfern könne man irgendwann nur noch dort "ein Gesicht geben". Dabei seien die öffentlichen Stellen neutral, aber nicht indifferent. "Uns lässt das Schicksal dieser Menschen nicht in Ruhe." Daraus ergebe sich auch ein Bildungsauftrag. Umso größer Rehms Lob für die Arbeit von Initiativen wie in Malsch: "Was Sie hier machen, jeder einzelne Stein, ist ein Lernort für Demokratie."
Tanja Becker-Fröhlich von der Stolpersteininitiative gab in ihrem Schlusswort das Lob umgehend zurück. Ihr Dank galt allen, die zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen hatten, darunter die Musiker Felicity Spencer (Klavier) sowie Dorothea Kuhn-Bender (Flöte) und Roland Leibold (Gitarre), die den Abend mit alten jüdischen Weisen einfühlsam untermalt hatten. Und ein Dank galt auch den Spendern, die mit ihren bislang knapp 1700 Euro die Realisierung des Projekts erst möglich machten.



