Teheran

Wohin die Proteste führen, ist ungewiss

Seit mehr als zwei Monaten fordern Zehntausende im Iran die Islamische Republik heraus.

25.11.2022 UPDATE: 25.11.2022 06:00 Uhr 2 Minuten, 16 Sekunden
Die Proteste in der Hauptstadt Teheran reißen nicht ab. Die Demonstranten blockieren Straßen und wollen das iranische Regime stürzen. Foto: dpa

Von Arne Bänsch

Teheran. "Kein Weg vor, kein Weg zurück", besagt ein persisches Sprichwort. Nach mehr als zwei Monaten Ausnahmezustand beschreibt es die verhärteten Fronten im Iran treffend. Die Straßenproteste haben die politische Elite in eine der schwersten Krisen seit Jahrzehnten gestürzt. Der Sicherheitsapparat reagiert mit äußerster Härte, ein Kompromiss ist nicht in Sicht. "Es gibt keinen Weg mehr zurück", sagen auch viele Menschen an diesen Tagen im Land.

Ausgelöst vom Tod der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini haben die Proteste Dutzende Städte erfasst. Die 22-Jährige war festgenommen worden, weil sie sich unislamisch gekleidet haben soll, und dann in Haft gestorben. Große Teile der Gesellschaft können sich mit dem Fall identifizieren – sie reagieren mit Entsetzen, Wut und Trauer. Kritik kommt sogar von Konservativen. Immer wieder werden die Proteste von staatlicher Gewalt und weiteren Todesfällen angefacht. Im Internet, das phasenweise abgestellt und eingeschränkt wird, kursieren Tausende Videos, die Gewalt der Sicherheitskräfte zeigen sollen. Dadurch wächst die Wut, die Opfer werden zu Ikonen der. Viele junge Demonstrantinnen sprechen von einer Revolution.

Besonders hart geht der Staat in den Provinzen vor. In Aminis Heimat, dem kurdischen Teil Irans, sind Militärkonvois eingerückt. Augenzeugen berichten von "bürgerkriegsähnlichen" Zuständen. Das Vorgehen setzte eine Spirale der Wut in Gang. "Mit jedem neuen Einschreiten der Staatsgewalt sehen wir, dass die Menschen sich nicht einschüchtern lassen", sagt Katajun Amirpur, Professorin für Islamwissenschaft in Köln.

Das Kopftuch stehe dafür, dass den Menschen das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt werde, so Amirpur. "Es betrifft alle, weil alle in diesem System in irgendeiner Form nicht das ausleben dürfen, was ihrer persönlichen Freiheit entspricht." Seit Jahren schlummere dieses "revolutionäre Potenzial" im Land. Die Ablehnung eines Großteils der jungen Protestbewegung trifft selbst Politiker des Reformlagers wie etwa Ex-Präsident Mohammed Chatami.

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Von der Führung sind keine Töne der Versöhnung zu hören. Religionsführer Ajatollah Ali Chamenei schwieg wochenlang. Danach begann er, seine Erzfeinde verantwortlich zu machen und spricht nun gar von Verschwörung und Terrorismus.

Amirpur bezweifelt, dass die Staatsmacht einlenkt. Die Mullahs selbst seien an die Macht gekommen, weil der Schah irgendwann zu Zugeständnissen bereit gewesen sei. "Diese Zugeständnisse waren es dann, die das System zum Einsturz gebracht haben. Weil die Revolutionäre sahen: Wir können ja tatsächlich etwas erreichen." Die große Sorge sei nun mit Blick auf die Protestierenden: "Sobald sie auch nur den kleinen Finger kriegen, wollen sie die ganze Hand."

Wohin die Proteste steuern, ist umstritten. Eine entscheidende Rolle könnten die Revolutionsgarden spielen, die systemtreue Eliteeinheit, die auch zu einer Wirtschaftsmacht aufgestiegen ist. "Es droht im Iran auch die Gefahr, dass einige Revolutionswächter einen Militärputsch wagen. Es gibt genug einflussreiche Revolutionswächter, die dieser Theokratie ein Ende bereiten könnten", erklärt Amirpur.

Ein iranischer Dozent erklärt, der Elite sei klar gewesen, unbeliebt zu sein. Doch das Ausmaß des Hasses auf ihren Politikstil habe sie schockiert. Bezeichnend findet er zudem, dass kaum ein Teilnehmer der Proteste die Regierung von Ebrahim Raisi kritisiere. Zu schwach sei der Präsident, der mit der geringsten Wahlbeteiligung seit Gründung der Islamischen Republik ins Amt kam. "Die Demonstranten haben die Unterstützung im In- und Ausland, aber leere Hände. Das Regime hat alles, nur will und mag es keiner."

Selbst wenn der Einfluss der Revolutionsgarden zunehmen sollte, glaubt Amirpur nicht an ein Ende der Freiheitsbewegung. Zu groß sei das Wissen darüber, was Rechtstaat und Demokratie bedeuteten. Der Iran sei weiblicher, nationaler und weniger religiös als 1979. "Dieser Wunsch nach Freiheit und vor allem auch das Wissen darüber, wie ein besserer Iran aussehen könnte, ist vorhanden."