Von Maren Wagner
Am Ende wird Samuel Winkelmann sich auf dem Stuhl zurücklehnen. "Inzwischen kann ich einschätzen, welche Spiele ich spielen kann und welche nicht."
Am Ende wird der Vater, Matthias Winkelmann, am Telefon kurz innehalten. "Ich habe seine Faszination nicht verstanden, das hat es für mich schwer gemacht, Zugang zu ihm zu finden."
Am Ende wird alles auf zwei Abschiedsbriefe hinauslaufen. Finale und Schlusspunkt einer fast sieben Jahre dauernden Spielsucht.
Samuels Geschichte beginnt, als er 15 Jahre alt ist. Mit Klassenkameraden spielt er im Internet "World of Warcraft" (WOW). Mit der Zeit schalten die Freunde den Computer aus. Samuel spielt weiter. Lehrer fangen an, Fragen zu stellen. Freunde rufen nicht mehr an.
Das Entsetzen kommt nach den Sommerferien: "Ich habe fast die ganze Zeit im Keller durchgezockt, bin nicht groß draußen gewesen, dadurch war ich im Vergleich zu meinen Freunden, die in der Sonne waren, kreidebleich." Samuel spricht frei, ohne Zögern, ohne Stocken. Er hat diese Sätze schon oft ausgesprochen, in Kindergärten, Schulen, einmal im Fernsehen.
Monatelang bereitet sich Samuel darauf vor, etwas zu ändern. An einem kalten Wintermorgen im Dezember - "es war 4 Uhr" - löscht er seinen Account. Erstmals seit knapp zwei Jahren fühlt er sich frei, sagt er, trifft seine Freunde wieder, schließt die Schule mit 1,7 ab.
Samuel, 26 Jahre, braunes Haar, Brille, sagt: "Dann hatte ich ein Drei-Monats-Loch, bevor der Wehrdienst losging." Er spielt wieder, sitzt zehn bis zwölf Stunden am Tag vorm Computer.
Die Bundeswehr fängt an, nichts ändert sich. Kommt Samuel heim, loggt er sich zuerst bei WOW ein. Einmal lässt er sich krankschreiben, sagt, er hätte die Schweinegrippe.
Der Wehrdienst endet, Samuel hat keine Ziele. "Ich bin so vor mich hingedümpelt." Bis zu 16 Stunden täglich spielt er jetzt, wird immer erfolgreicher. "Ich habe Leute online kennengelernt, die mit mir zusammenspielen wollten, so gut war mein Ruf. Das hat mir gefallen."
Samuel sagt: "Im Spiel war ich als Jäger der Mega-Held, aber außerhalb lief nichts. Keine Freunde, kein Job, mit der Familie gab’s Stress, weil ich mich nicht an Haushaltsregeln gehalten habe."
Dann geht der Computer kaputt. Samuel bricht zusammen: "Ich habe realisiert, dass ich nichts gebacken kriege." Er sucht sich Hilfe bei der Fachstelle Sucht in Karlsruhe. Samuel findet einen Praktikumsplatz in einem medizintechnischen Unternehmen, fährt mit Freunden in Ski-Urlaub nach Österreich.
"Alles hat sich sehr schnell wieder normalisiert", sagt er. Zur Beratung geht er bald nicht mehr.
Dann der nächste Rückschlag. Samuel ist beim Praktikum unterfordert, nicht ausgelastet, abends langweilt er sich. Er spricht mit seinem Vater, sagt, er möchte wieder spielen. "Kontrolliert, habe ich gesagt", sagt Samuel. Vater und Sohn holen sich die Zustimmung beim Suchtberater.
Der Spiel-Strudel zieht Samuel wieder in die Tiefe. Er meldet sich beim Praktikum krank, kündigt, ohne sich eine neue Stelle zu suchen. "Dann ging’s erst richtig los." Samuel spielt zwei, drei Tage durch, schläft eine Nacht, zockt weiter.
Nach einem Monat sendet Samuel einen Hilferuf an seine Eltern: "Ich habe in einem Brief geschrieben, dass ich mit WOW nicht zurechtkomme, dass ich überhaupt keine Kontrolle darüber habe und professionelle Hilfe brauche."
Wieder geht er zur Suchtberatung. Diesmal aber ist klar: Das reicht nicht mehr. "Schnell kam zur Sprache, dass ich eine stationäre Reha machen muss."Die Anträge werden gestellt, sechs Monate muss Samuel auf einen Platz warten. Wieder spielt er, zwölf, 13 Stunden am Tag, "aber mit dem Unterschied, dass ich eine Struktur im Tagesablauf hatte", sagt er. "Ich bin morgens mit dem Hund raus, habe zu Mittag gekocht. Dazwischen habe ich gespielt."
Diesmal geht die Suchtberatung tiefer, sagt Samuel: "Mit meinem Berater habe ich erarbeitet, dass ich Ähnlichkeiten mit meinem Spiel-Charakter habe. Dass ich wie der Jäger eher hinten positioniert, dort aber extrem wichtig bin."
Samuel, nicht klein, aber auch nicht groß, nicht schmächtig, aber auch kein Muskelpaket, ist ein Typ, der in der Menge auf den zweiten Blick auffällt. Er sagt: "Ich bin keine Rampensau."
Das bestätigt Samuels Vater. Er habe in der Gruppe nie besonders herausgestochen, sagt Matthias Winkelmann. "Ich habe ihn eher als Mitläufer erlebt." Aufgewachsen mit drei Schwestern, zwei davon älter als er, habe Samuel als Kind keinen einfachen Stand gehabt. Matthias Winkelmann hält kurz inne, dann sagt er: "Und ich war nicht der Vater, mit dem er mal Fußball spielen konnte. Das hätte ihm wahrscheinlich gut getan."
Bevor er sich auf den Weg in die AHG Klinik in Münchwies im Saarland macht, schreibt Samuel einen Abschiedsbrief. "Ich habe im WOW-Forum geschrieben, warum das Spiel für mich nicht funktioniert. Ich bin auf viel Verständnis gestoßen, weil es auch anderen so ging." Zu dieser Zeit gehört Samuel zu den besten 100 Jägern weltweit.
Einen zweiten Abschiedsbrief schreibt er in der Reha. Der Adressat ist Blizzard Entertainment, amerikanischer Spieleentwickler.
Es war das Ende einer Spielerkarriere.
Samuel sagt: "Es gehört zum Konzept der Klinik, dass man einen Brief an die Firma schreibt und sagt, man möchte seinen Account endgültig gelöscht haben."
Samuel Winkelmann lehnt sich auf seinem Stuhl zurück. Er studiert Soziale Arbeit an einer Fachhochschule in Mannheim, hält Vorträge bei Präventionsveranstaltungen in Schulen oder Kindergärten. In seinem Lebenslauf steht "Erfahrung mit pathologischem Computergebrauch".
Manchmal spielt er wieder online, manchmal muss er Spiele deinstallieren, weil sie ihn zu sehr mitreißen. Er habe das im Griff, sagt er. "Was ich nie wieder anfassen werde, ist World of Warcraft, weil damit zu viele gute Erinnerungen verbunden sind."