Die Überlebensstrategie vieler Opfer lautet häufig: Sich ein dickes Fell zulegen und so die Zeit durchstehen. Hoffen, dass es irgendwann besser wird. Foto: dpa
Von Anica Edinger
Marias Mitschüler haben sie seit dem ersten Tag in der fünften Klasse gehasst. Da ist sich die 13-Jährige sicher. In die Schule geht sie seit drei Monaten nicht mehr. Denn Maria* hat Angst - vor drei Mädchen und auch einigen Jungen. "Fette Sau" sagen die zu Maria, sie lachen über sie, manchmal schubsen sie sie auch. Sich zu wehren, hat Maria aufgegeben. Ihre Mitschüler kennen keine Gnade. Einen Ausweg gibt es offenbar nicht. Keiner kann ihr mehr helfen, auch nicht die Lehrer.
Also stellt sich Maria bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Heidelberg vor. Denn sie ist krank: Schulangst, Schulverweigerung, Magenschmerzen - das sind ihre Symptome. Das Wort "Mobbing" fällt in den meisten ihrer Sätze. Fälle wie die von Maria sind in Dr. Michael Kaess’ Alltag keine Seltenheit. Der geschäftsführende Oberarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Mobbing an Schulen. Mehr als zwei von drei Patienten in der Heidelberger Klinik berichten von solchen Erfahrungen.
Studien belegen, dass 20 bis 25 Prozent der Jugendlichen hierzulande schon einmal gemobbt wurden. 33 Prozent aller Mobbingopfer entwickeln außerdem schwere psychische Störungen, sie verletzen sich selbst und denken an Selbstmord. Auch die Wahrscheinlichkeit, im Erwachsenenalter eine Depression zu entwickeln, ist laut einer neuen Studie bei Mobbingopfern sogar höher als bei solchen, die misshandelt wurden.
Reden will darüber aber niemand - schon gar nicht in der Zeitung. Auch nicht anonym. Schulsozialarbeiter haben Bedenken, aber auch viele Schulleiter. Und die Betroffenen? Die möchten das Erlebte nicht noch einmal hochkochen lassen, sie möchten vergessen.
Oder einfach in Ruhe gelassen werden, vor allem, wenn es gerade ruhiger um ihre Person geworden ist. Andere befürchten, dass man sie doch irgendwie erkennen könnte, wenn sie ihre Geschichte öffentlich machen. Dass dann jeder weiß: Der oder die wurde gemobbt. Mobbing ist eines der Themen, das es noch nicht aus der Tabuzone geschafft hat.
Prävention ist ein Stichwort, das bei der Recherche häufig fällt. Jeder tut etwas, das muss betont werden. In Heidelberg wurden flächendeckend - ab dem nächsten Schuljahr auch an Gymnasien - Schulsozialarbeiter eingestellt. Und auch die Privaten haben schon vorgesorgt, etwa die St.-Raphael-Schule in Neuenheim.
Dort arbeitet Clara Kerber von "In Via", dem Katholischen Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit in der Erzdiözese Freiburg. Auch sie sagt: "Mein Schwerpunkt ist Prävention." Schließlich sei Mobbing an Gymnasium weniger ein Thema, mit zunehmendem Bildungsgrad und Alter werde es immer weniger. Deshalb seien vor allem die Unter- und die Mittelstufe betroffen. Besonders in fünften Klassen gebe es oft Probleme, "weil sich da die Klassengemeinschaft neu formiert".
Mit einer Eisenstange verprügelt
Tatsächlich zeigen Studien, dass Mobbing vor allem an Grundschulen verbreitet ist, es folgen Haupt-, Gesamt- und Realschulen. Eines haben aber alle Schulformen gemein: "Es ist ein Zwangskontext", so Kerber. So viel Zeit in einer Gemeinschaft zu verbringen, "wo nicht alle die besten Freunde sind", sei für viele Schüler eine Herausforderung.
Deshalb hat auch Kerber seit Beginn ihrer Arbeit im Jahr 2009 mit Fällen von Mobbing zu tun. In allen stand der Betroffene alleine da. "Ein Merkmal von Mobbing ist, dass die Opfer keine Helfer haben", sagt Kerber. Die Täter dagegen treten in Gruppen auf.
Und da gibt es eine klassische Rollenverteilung: "Einen Hauptakteur und zwei bis drei Mitläufer", meint die Schulsozialarbeiterin. Es gehe um Macht, darum, die Lacher auf seine Seite zu ziehen, der "Coole zu sein". "Für die Täter ist Mobbing oft eine Pausenunterhaltung", sagt Kerber.
Dass für den Betroffenen der Spaß da schon längst aufgehört hat, spielt keine Rolle. Die Überlebensstrategie vieler Opfer lautet häufig: "Sich ein dickes Fell zulegen und so die Zeit durchstehen", berichtet Kerber. Hoffen, dass es irgendwann besser wird. Oft seien es Außenstehende, die in Kerbers Büro kommen und sie auf konkrete Fälle aufmerksam machen. Bei der Lösung des Konflikts gilt vor allem eines: Niemanden beschuldigen. "Man arbeitet mit dem ,No-Blame-Approach‘." Das bestätigt auch Ingrid Nebelin-Runge. Die Lehrerin im Ruhestand arbeitet seit sieben Jahren als Mediatorin an der Mannheimer Waldschu᠆le. Sie ist ein "Senior Partner in School" (SiS). Der gleichnamige Verein bildet Mediatoren aus, die ehrenamtlich in Schulen schlichten. Gut 250 Fälle von Mobbing habe sie in ihrer Zeit an der Werkreal- und Realschule bereits behandelt, schätzt Nebelin-Runge. Ganz aktuell gebe es einen besonders schlimmen, der über das Verbale hinausgeht: Fünf Jungen sollen einen Mitschüler mit Eisenstangen verprügelt haben.
Im Sinne des "No-Blame-Approachs" wird in Mobbing-Fällen eine Arbeitsgemeinschaft gegründet - mit dem Einverständnis des Gemobbten. Mit dabei sind neben den Tätern auch neutrale Mitschüler, die nicht gemobbt haben - "die schweigende Mehr᠆heit", wie Kerber sagt. Gemeinsam wird dann besprochen, was man tun kann, damit es dem Betroffenen besser geht. Den Tätern werden Möglichkeiten eröffnet, sich anders zu verhalten. Das Klassenklima soll verbessert werden. In den meisten Fällen funktioniere das auch. Wenn nicht, hilft am Ende nur noch der Schulwechsel. Doch selbst dann kämpfen Mobbingopfer oft noch mit den Folgen ihrer Erfahrungen. Das bestätigt ein Fall an der Waldschule, an den sich Rektor Jörg Schuchardt erinnert: "Ein Mädchen wechselte wegen Mobbings an einer anderen Schule zu uns. Doch sie hat den Weg nicht geschafft." Keiner hat die Schülerin an der Waldschule je zu Gesicht bekommen.
*Name von der Redaktion geändert