Von Andreas Lorenz-Meyer
Der Winter ist da – und die Corona-Infektionszahlen steigen bedrohlich. Staaten greifen wieder zum letzten Mittel: Lockdown oder Teil-Lockdown. Dabei gerät fast in Vergessenheit, dass wir neben der Coronakrise eine zweite existenzielle Krise haben: die Klimakrise. Und die meldet sich immer wieder zurück: mit den Waldbränden in Kalifornien, dem dramatischen Rückgang von Eis in der Arktis und der Abschwächung des Golfstroms. Die menschengemachte Erwärmung mitsamt ihren verhängnisvollen Nebeneffekten schreitet weiter voran, daran ändert auch nichts, dass Corona den globalen Treibhausgas-Ausstoß vorübergehend sinken ließ.
Das zeigen die Zahlen des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, die in der Fachzeitschrift "Natur Communications" vorgestellt wurden. Im ersten Halbjahr 2020 gelangte danach 8,8 Prozent weniger CO2 in die Atmosphäre als im Vorjahreszeitraum. Im Monat April, zum Beginn des ersten Lockdowns, waren es sogar 16,9 Prozent weniger. Ein CO2-Knick, verursacht durch das erzwungene Herunterfahren der Wirtschaft: Die Menschen waren weniger mit Auto und Flugzeug unterwegs, Industrien drosselten die Produktion. Leider hat das Kurzzeittief keinerlei Effekt auf die langfristige Temperaturentwicklung des Planeten. Und der Treibhausgas-Ausstoß erreicht ja auch schnell wieder die alten Werte, sobald sich die Beschränkungen lockern.
Während die Coronakrise die Politik zum sofortigen Handeln bewegt, kommt der globale Klimaschutz nur schleichend voran, wenn überhaupt. Für die österreichische Klimaforscherin Helga Kromp-Kolb lässt sich das mit der "evolutionär bedingten Eigenschaft des Menschen" erklären, "bei akuten Bedrohungen viel stärker zu reagieren als bei allmählich sich entwickelnden." Die Klimakrise erscheint vielen Verantwortlichen immer noch als Problem von morgen oder übermorgen.
Gelingt es der internationalen Klimaforschergemeinde dennoch, die politischen Entscheider jetzt und trotz Corona zu konsequenterem Klimaschutz zu bewegen? Kromp-Kolb sieht da durchaus Möglichkeiten. Sie gehört zum Wissenschafts-Netzwerk Climate Change Centre Austria, das wissenschaftliche Grundlagen für "gute Entscheidungen" in der Klimapolitik liefern will. Gute Entscheidungen – das bedeutet für Kromp-Kolb nicht nur, von Erdöl, Erdgas und Kohle loszukommen und die fossilen Energien durch erneuerbare Energien zu ersetzen. Es geht um den allumfassenden Übergang hin zu nachhaltigem Wirtschaften. Ein Prozess, den Forscher als Transformation bezeichnen.
"Leider können sich die wenigsten Menschen und auch Politiker etwas darunter vorstellen. Daher reicht es nicht, dass die Wissenschaft die Gefahren der Klimakrise aufzeigt. Wir müssen mehr tun, wir müssen positive Zukunftsbilder entwerfen." Zum Beispiel dieses Bild: Saisonal, regional, bio und fleischarm zu essen, fördert die Gesundheit spürbar, kommt einem also selbst zugute. Außerdem reduziert man Tierleid, unterstützt die heimischen Landwirte und schützt Boden und das Klima.
"Solche Bilder zu zeichnen war klassischerweise die Aufgabe der von gesellschaftlichen Zielen beseelten Politiker, aber die Gegenwart bringt wenige derartige Persönlichkeiten hervor. Die Wissenschaft der Transformation versucht zunehmend, diese Rolle zu übernehmen. Sie versucht, gesellschaftlicher und politischer Motivator zu sein und zu zeigen, dass es durchaus gangbare Wege aus der Klimakrise gibt", erklärt Kromp-Kolb.
Mehrere Tausend Transformationsforscher weltweit sind damit beschäftigt. Sie suchen Lösungen, um Energie, Verkehr, Ernährung und Konsum nachhaltiger zu gestalten. Auch Jochen Markard von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften gehört dazu. "Als Wissenschaftler haben wir die Möglichkeit, aber auch die Pflicht, langfristig zu denken”, sagt Markard. "Nehmen wir den Verkehr. Da sind Elektroautos mittlerweile eine ernst zu nehmende Alternative, aber wir dürfen nicht beim Auto stehen bleiben. Im Bereich Mobilität sind grundlegende Systemveränderungen nötig, denn viele Städte ersticken schon jetzt am Verkehr – ob da nun Elektroautos fahren oder nicht.”
Wesentlich nachhaltiger sei es, Bahn, Rad, Bus oder Straßenbahn zu fahren, zu Fuß zu gehen – oder Verkehr gleich ganz zu vermeiden. Home Office und Videokonferenzen machten das in vielen Branchen möglich. "Bei unserer Arbeit geht es also darum, technologische Innovationen, neue Geschäftsmodelle und politische Alternativen zu entwickeln. Sind diese Alternativen verfügbar, können die politisch Verantwortlichen in Krisensituationen darauf zurückgreifen."
Forscher wie Markard rufen dazu auf, Coronakrise und Klimakrise zu verbinden. Die Hilfsgelder, die das Zusammenbrechen der Wirtschaften verhindern sollen, müssen in nachhaltige Industrien und Geschäftsmodelle fließen. Das ist bisher nicht so. Zwar hat Frankreich zum Beispiel die finanzielle Unterstützung der Air France daran gebunden, dass die Airline künftig nicht mehr mit inländischen Bahnstrecken konkurriert. Doch insgesamt gehen die Coronasubventionen eher in die falsche Richtung.
Das Consultingunternehmen Vivid Economics versuchte das mit einer Art Index des grünen Investierens in den G20-Staaten zu verdeutlichen. Bei China, USA, Indonesien, Indien, Mexiko, Argentinien, Saudi-Arabien, Türkei und Russland sieht es mau aus: Sie alle pumpten ihre Milliarden hauptsächlich in klimaschädliche Industrien und Geschäftsmodelle. Das dürfe nicht so weitergehen, warnt Markard: "Nutzen wir die Coronahilfen jetzt nicht auch intelligent für den Klimaschutz, fehlen uns in den nächsten Jahren die Mittel, auf die Klimakrise zu reagieren. Und das ist eine Krise, die das Ausmaß von Corona noch weit übersteigt.”
Für Markard ist es auch noch nicht zu spät, den Investitionshebel in Richtung mehr Klimaschutz umzulegen. Viele Gelder wurden zwar schon verteilt, teils ohne ausreichende Berücksichtigung von Klimazielen. "Aber man muss unterscheiden zwischen Soforthilfen sowie mittel- und längerfristigen Programmen. Mittel- und langfristig haben wir noch Spielraum. Die Coronakrise lässt sich immer noch als Chance für nachhaltigeres Wirtschaften nutzen.”
Damit das klappt, müssen Transformationsforscher noch viel Überzeugungsarbeit leisten.