Missbrauch und Vertuschung um Kaplan Emil Stehle
Sechs betroffene Frauen erheben schwere Vorwürfe gegen den 2017 verstorbenen Dossenheimer Kaplan. Derzeit laufen mehrere Untersuchungen.

Von Benjamin Miltner
Dossenheim/Freiburg/Hildesheim. Der Missbrauchsskandal der Katholischen Kirche hat auch die Region rund um Heidelberg erreicht. Gegen den in den 50er Jahren als Kaplan in Waibstadt und Dossenheim tätigen und 2017 verstorbenen Bischof Emil Stehle sind zunächst Vertuschungs- und nun auch Missbrauchsvorwürfe in sechs Fällen laut geworden. Die Anschuldigungen gegen den gerade in der Bergstraßengemeinde hoch geschätzten Geistlichen haben bereits erste Konsequenzen: So soll die nach Bischof Emil Stehle benannte und in Dossenheim ansässige Stiftung einen neuen Namen erhalten, wie deren Vorstand auf RNZ-Anfrage ankündigte (siehe unten).

Vereitelung einer Strafverfolgung
Den Stein ins Rollen gebracht hat eine Untersuchung in Niedersachsen. Im September 2021 wurde in Hildesheim die Untersuchung zu sexuellem Missbrauch im dortigen Bistum vorgestellt und eine Beteiligung Stehles bekannt. Dieser habe 1976 als Leiter der "Fidei Donum" – Koordinierungsstelle der Deutschen Bischofskonferenz für diözesane Priester in Lateinamerika – dem damaligen Hildesheimer Bischof Heinrich Maria Janssen offenbar geholfen, einen des Missbrauchs beschuldigten Priester nach Paraguay zu versetzen.
Hintergrund
> Bischof Emil Lorenz Stehle (1926-2017) war ein deutscher Geistlicher der römisch-katholischen Kirche. 1926 im südbadischen Herdwangen-Mülhausen geboren, geriet Stehle im Zweiten Weltkrieg als Frontsoldat in französische Gefangenschaft und nahm dort im
> Bischof Emil Lorenz Stehle (1926-2017) war ein deutscher Geistlicher der römisch-katholischen Kirche. 1926 im südbadischen Herdwangen-Mülhausen geboren, geriet Stehle im Zweiten Weltkrieg als Frontsoldat in französische Gefangenschaft und nahm dort im "Stacheldrahtseminar" bei Chartres – einem katholischen Priesterseminar – teil. Nach Studium der Theologie wurde er 1951 in Freiburg zum Priester geweiht.
> Sein Wirken als Kaplan in der Region: Die Vikarzeit verbrachte Stehle ab 1953 je zwei Jahre lang in Waibstadt und bis 1957 in Dossenheim. In der Bergstraßengemeinde genoss er einen guten Ruf und schloss viele Freundschaften. "Er war gerade für uns junge Leute in der Katholischen Jugend ein Idol", berichtet etwa Kurt Riedinger der RNZ. Der 83-Jährige gehörte zu jenem Team um den gemeinsamen Freund Dieter Schmich, das auf Stehles Initiative von 1956 an das Legen des Fronleichnamsteppichs als Tradition in Dossenheim einführte. Von dort aus zog es Stehle nach Südamerika. Immer wieder besuchte er die Bergstraßengemeinde und galt dort als hochwillkommen.
> Sein Wirken in Südamerika: Von 1957 an baute Stehle als Seelsorger der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá eine Gemeinde für deutschsprachige Katholiken auf. Von dort aus arbeitete er ab 1969 zunächst als Berater von Adveniat, ehe er 1972 Zweiter Geschäftsführer des Lateinamerika-Hilfswerks wurde und dieses von Essen aus von 1977 bis 1988 leitete. "Don Emilio", so sein Kosename in Lateinamerika, wurde 1983 in Rom zum Weihbischof ernannt – mit einem Bus voll Dossenheimer Zaungäste. Mit Übernahme des neu geschaffenen Bischofssitzes in Santo Domingo zog er fest nach Ecuador. Von 1983 bis zum Friedensabkommen 1992 wirkte Stehle zudem im Bürgerkrieg von El Salvador als Vermittler zwischen Militärregime und Guerilla. Dafür wurde er zusammen mit dem Erzbischof von San Salvador 1994 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, der an Arafat, Peres und Rabin für die Friedensanstrengungen im Nahen Osten ging. Zudem war "Der Bischof, den auch die Guerilleros achten", wie die RNZ 1997 titelte, mehrfach an der Befreiung deutscher Aufbauhelfer beteiligt und erhielt 1986 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.
> Seine Rückkehr nach Deutschland: 2002 nahm Papst Johannes Paul II. seinen altersbedingten Rücktritt an. Stehle war zunächst noch als Firmbischof in Südbaden tätig und verbrachte seinen Lebensabend, seit 2006 durch einen Schlaganfall schwer behindert, in Konstanz. Er starb 2017.
Gegen diesen lag ein Haftbefehl der Staatsanwaltschaft wegen des wiederholten sexuellen Missbrauchs an schutzbefohlenen Minderjährigen vor. Stehle soll sich damit an der Vereitelung einer Strafverfolgung beteiligt haben, was ein Schriftverkehr mit Bischof Janssen belegt. "Die Beteiligung Stehles an der Vertuschung und Identitätsfälschung trug dazu bei, dass der Täter nicht zur Rechenschaft gezogen werden konnte", stellte das Hilfswerk Adveniat in einer Stellungnahme klar. Die Hildesheimer Expertengruppe (siehe Hintergrund) vermutet, dass es sich bei dieser Versetzungspraxis nicht um einen Einzelfall gehandelt habe. "Ob weitere Verdachtsfälle aus dem Bereich Vertuschung vorliegen, wird die Untersuchung der Akten der Koordinationsstelle Fidei Donum im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz zeigen", heißt es dazu von Seiten der Katholischen Kirche.
Auch interessant
Vorwurf des Missbrauchs
Was Emil Stehle angeht, blieb es nicht lange alleine bei dem Vorwurf der Vertuschung. In einem offenen Brief an den Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, schrieb Antje Niewisch-Lennartz als Obfrau der Expertengruppe im Dezember: "Nach Veröffentlichung des Berichts hat sich bei mir zunächst ein Angehöriger, dann die Betroffene selbst gemeldet und vorgetragen, durch Stehle sexuell missbraucht worden zu sein." Ein weiterer Missbrauchsvorwurf sei zudem in seiner Heimatdiözese Freiburg bekannt, der Stehle kirchenrechtlich bis zu seiner Bischofsweihe in Südamerika 1983 zugehörig war. Diese reagierte noch im Dezember mit einer Stellungnahme und erklärte, dass "im November 2005 Hinweise einer Betroffenen auf übergriffiges und grenzüberschreitendes Verhalten" seitens Emil Stehle eingegangen seien. Das Hilfswerk Adveniat berichtete nahezu gleichzeitig, es hätte infolge der eigenen Veröffentlichung zur Missbrauchsstudie im September "Hinweise mit dem ausdrücklichen Wunsch auf Vertraulichkeit und Anonymität" erhalten, die auf eine "Täterschaft Stehles in Fällen sexuellen Missbrauchs hindeuten". Auf RNZ-Nachfrage erklärte Obfrau Niewisch-Lennartz nun, dass sich bei ihr mittlerweile sechs Frauen mit unterschiedlichem Missbrauchserleben durch Emil Stehle gemeldet hätten. Darunter habe eine Geschädigte betont, dass sie sich bereits 2002 oder 2003 beim Portal der Deutschen Bischofskonferenz gemeldet habe. Weitere Einzelheiten zu den Vorwürfen nannte sie ebenso wie Adveniat nicht.

Reaktion der Katholischen Kirche
"Das Erzbistum Freiburg steht in Fällen von Übergriffen und Missbrauch fest auf der Seite der Betroffenen", teilt dessen Sprecher Marc Mudrak auf RNZ-Nachfrage mit. "Wir stellen uns der Aufarbeitung und sind bereit, Schuld anzuerkennen." Der Erzdiözese seien aktuell drei Missbrauchsvorwürfe gegen Bischof Stehle bekannt. Zum einen der bereits angesprochene und im Jahr 2005 von der Betroffenen gemeldete Vorfall, der sich auf bereits mehrere Jahrzehnte zurückliegende Vorkommnisse bezog.
Hintergrund
> Antje Niewisch-Lennartz leitet als Obfrau die vierköpfige unabhängige Expertengruppe zum Aufarbeitungsprojekt "Wissen teilen" im Bistum Hildesheim. Die Juristin und Politikerin der Grünen war von 2013 bis 2017 niedersächsische Justizministerin und zuvor acht Jahre lang
> Antje Niewisch-Lennartz leitet als Obfrau die vierköpfige unabhängige Expertengruppe zum Aufarbeitungsprojekt "Wissen teilen" im Bistum Hildesheim. Die Juristin und Politikerin der Grünen war von 2013 bis 2017 niedersächsische Justizministerin und zuvor acht Jahre lang Vorsitzende Richterin am Verwaltungsgericht Hannover.
> Die Hildesheimer Missbrauchsstudie hat als Auftrag "die Aufdeckung möglicher Strukturen, die sexuellen Missbrauch durch Angehörige des Bistums Hildesheim möglich gemacht, unterstützt, geduldet oder gedeckt haben". Sie wurde vom amtierenden Bischof Heiner Wilmer im Jahr 2019 als unabhängige Kommission ins Leben gerufen und konzentriert sich zunächst auf die Zeit von 1957 bis 1982, die Amtszeit des 1988 verstorbenen Bischofs Heinrich Maria Janssen. Ihm wird der Missbrauch zweier Jungen vorgeworfen; die 2015 und 2018 dokumentierten Vorwürfe der Betroffenen waren Ausgangspunkt der im September 2021 abgeschlossenen Untersuchung. Eine Gruppe von Experten fand keine weiteren Hinweise auf Missbrauchstaten des Bischofs, die bestehenden Vorwürfe sind aber auch nicht entkräftet worden. Die Kommission fand hingegen Hinweise auf insgesamt 71 Tatverdächtige über die Jahrzehnte hinweg – und in diesem Zusammenhang auch eine Beteiligung des ehemaligen Dossenheimer Kaplans und verstorbenen Bischofs Emil Stehle an der Vereitelung einer Strafverfolgung. bmi
Dieser Missbrauchsvorwurf ereignete sich nach der Zeit Stehles als Priester in der Erzdiözese Freiburg, dementsprechend auch nicht während seiner Zeit als Vikar in Dossenheim, wie Mudrak erklärt. "Die Erzdiözese ging dem Fall zügig nach, es gab einen intensiven Austausch mit der Betroffenen." Die Bistumsleitung habe Stehle, der als Ruheständler wieder im Erzbistum lebte und dort Firmungen hielt, unmittelbar mit den Vorwürfen konfrontiert. Dieser habe grenzüberschreitendes Verhalten eingeräumt, woraufhin ihm alle diözesanen Tätigkeiten untersagt wurden. "Eine Veröffentlichung zu einem einzelnen Fall wurde damals offenbar nicht für sinnvoll erachtet", antwortet Mudrak auf RNZ-Nachfrage. Unlängst habe sich eine weitere Person beim Erzbistum "mit einem Hinweis zu Bischof Emil Stehle aus seiner Zeit in Südamerika persönlich gemeldet". Neben diesen beiden aktenkundigen Fällen sei in Freiburg eine weitere Betroffene bekannt, die sich an die Hildesheimer Expertengruppe, aber nicht direkt an das Erzbistum gewendet habe.
Versprechen systematischer Aufklärung
Für Niewisch-Lennartz ist klar: Bischof Stehle hat "nachweislich einen des sexuellen Missbrauchs beschuldigten Priester in Südamerika der hiesigen Strafverfolgung entzogen" und gelte nunmehr selbst als Tatverdächtiger. Dies "führt zur Dringlichkeit einer sofortigen und systematischen Aufklärung", wie sie ihren offenen Brief schließt. Die Deutsche Bischofskonferenz hat in Abstimmung mit Adveniat diese "geforderte externe, unabhängige, fachliche und systematische Untersuchung der Fidei-Donum-Akten auf Anzeichen für sexuellen Missbrauch" eingeleitet und rechnet mit Fertigstellung des Berichts "voraussichtlich im ersten Halbjahr 2022". Den gleichen Zeitraum als Abschlussziel gesetzt hat sich die von der Erzdiözese Freiburg bereits im Jahr 2018 beauftragte Arbeitsgemeinschaft (AG) Aktenanalyse zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum. Sie soll der im Oktober 2021 gegründeten Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs (GE-Kommission) ihre Ergebnisse übergeben. "Über das weitere Vorgehen und die Form der Veröffentlichung entscheidet die GE-Kommission", heißt es aus Freiburg.
Stiftung gibt sich einen neuen Namen
Vorstand und Kuratorium sind erschüttert von den Vorwürfen gegen Bischof Emil Stehle. Die sozialen Projekte in Ecuador sollen fortgeführt werden.

Dossenheim. (bmi) "Die Vorstandschaft und das Kuratorium der Stiftung Bischof Emil Stehle haben die Missbrauchsvorwürfe gegen Bischof Stehle schwer getroffen." Das ist die zentrale Botschaft der Stellungnahme der Dossenheimer Institution auf die jüngsten Entwicklungen um ihren verstorbenen Namensträger (siehe weitere Artikel). So wurde für den morgigen Freitag, 4. Februar, eine außerordentliche Sitzung der Stiftung einberufen, in der eine Änderung des Namens beschlossen werden soll.
"Wir sind tief erschüttert, entsetzt und enttäuscht." Auch am Telefon sind die Emotionen von Karin Pfeifer deutlich zu spüren. Sie steht der Stiftung zusammen mit ihrem Vater Dieter Schmich vor und hat den Großteil der ehrenamtlichen Arbeit übernommen. "Gerade meine Eltern haben Emil Stehle sehr gut gekannt, er war ein Freund meines Vaters." Entsprechend groß falle nun die persönliche Enttäuschung aus.
Stehle und der Ur-Dossenheimer Schmich lernten sich in den 50er Jahren kennen, als der Geistliche in jungen Jahren Kaplan am Ort war. In seiner Zeit als Bischof in Ecuador hat Namensgeber Emil Stehle in Santo Domingo de los Colorados – der viertgrößten Stadt des Landes – zahlreiche Hilfsprojekte aufgebaut. Schon zu Lebzeiten bat der Bischof in Dossenheim um Hilfe. Schmich fand im Bekanntenkreis viele Unterstützer und Paten, legte den Grundstock für monatliche Hilfsleistungen – damals 3000 D-Mark heute knapp 13.000 Euro im Monat –, um Menschen in Ecuador würdigere Lebensumstände mit Perspektive zu ermöglichen. Das Engagement mündete 2007 in der Gründung der "Stiftung Bischof Emil Stehle". Schmich wollte das Lebenswerk des damals schwer kranken und 2017 verstorbenen Freundes weiterführen.
Die Vorwürfe gegen Stehle sind ein Schlag. Sie führen zur morgigen Sitzung der Stiftung, "um über die schwerwiegenden Beschuldigungen zu sprechen und eine Namensänderung der Stiftung zu beschließen." Pfeifer betont: "Uns war schnell klar: Wir wollen und müssen diesen Schritt machen." Konkrete Vorschläge für die Umfirmierung gebe es noch keine, ein Bezug zu Ecuador wäre aber wünschenswert. Das für Stiftungen zuständige Regierungspräsidium ist bereits informiert.
Schon nach der Veröffentlichung der Hildesheimer Missbrauchsstudie im September und den damit verknüpften Vertuschungsvorwürfen gegen ihren Namensgeber hatten sich Vorstand und Kuratorium der Stiftung – Letzteres besetzt unter anderem mit den Dossenheimer Pfarrern Ronny Baier und Matthias Weber sowie Bürgermeister David Faulhaber und dessen Vorgänger Hans Lorenz als Beisitzer – in einem Brief an ihre Unterstützter gewandt. "Als verantwortliche Personen der Bischof-Emil-Stehle-Stiftung verurteilen wir dieses Handeln zutiefst und distanzieren uns in aller Form." Eines ist den Verantwortlichen damals wie heute wichtig: "Gleichzeitig sind wir der Überzeugung, dass dieser Vorfall nicht das karitative und soziale Engagement der Stiftung berührt." Durch sie werde bis heute wertvolle und segensreiche Arbeit geleistet.
Und zwar auf vielfältige Weise: in mehreren Kinder- und Altenheimen Santo Domingos, einem Zentrum gegen Unterernährung, einer Anlaufstelle für behinderte Kinder, einer Kinderkrippe, über Stipendien für Schule wie Universität oder auch einem Dachdeckerprogramm, das jedes Jahr rund 40 Hütten wasserdicht macht. Projekte, die fast alle Bischof Stehle initiierte, der sich gegen das Leid und die Armut der Bevölkerung in seiner zweiten Heimat stemmte.
"Wir wollen dies Hilfsarbeit fortführen", betont Pfeifer, die mit Ehemann Ralf und Tochter Ann-Kathrin zuletzt Ende 2021 die Hilfsorganisationen in Santo Domingo besuchte. Wie immer – wie auch alle Verwaltungsausgaben – bezahlt aus eigener Tasche. Das ist der Familie ebenso wichtig zu betonen wie der vom Steuerbüro bescheinigte Fakt, dass jeder ihr anvertraute Cent nach Lateinamerika fließt.
"Mein Vater sorgt sich, dass wir mit der Umfirmierung Spender verlieren könnten", sagt Pfeifer. Sie selbst glaube, dass die meisten der rund 250 Unterstützer – davon etwa 60 mit fixen Monatsbeträgen – bei ihren Spenden vor allem die Sozialeinrichtungen im Kopf hätten. Zumal ein Großteil Bischof Stehle nicht mehr persönlich kennengelernt habe. Aber: Zwei langjährige Paten hätten ihren Rückzug zuletzt auf die Missbrauchsvorwürfe bezogen. "All das ist schlimm und alle Skandale müssen auf den Tisch", hofft Pfeifer, dass die ganze Kirche nun Aufarbeitung leistet.