Rehkitze, die wie Menschen schreien, "vergisst du dein Leben lang nicht"
Wenn das Grün gemäht wird, wird's für die Tiere gefährlich - Jäger und Landwirte sorgen vor

Wenige Wochen alte verwaiste Rehkitze, fotografiert in der Brunnenregion. Eine unbekannte Anzahl der possierlichen Tierkinder stirbt jährlich rund um Sinsheim, wenn die Wiesen gemäht werden. Foto: Tim Kegel
Von Tim Kegel
Sinsheim. "Wenn von zehn Rehkitzen neun zermäht werden, lebt noch eins zu viel": Dieser derbe Satz, den Jagdpächter P. (Name ist der Redaktion bekannt) vor einiger Zeit von einem Landwirt aus seinem Revierbereich vernommen haben will, habe ihn fassungslos gemacht. So sehr, dass er jetzt zum Telefon griff und sich bei der RNZ meldete. Er wolle weder Anschuldigungen erheben, noch pauschal über die Landwirtschaft urteilen - und deshalb seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Ziel sei vielmehr, Aufmerksamkeit zu wecken für das Unglück, das Rehen oft in der Zeit des Mähens der Wiesen widerfährt.
Mit dem frühen Frühsommer werden die Wiesen ein erstes Mal gemäht. Genau zu dieser Zeit setzen Rehgeißen ihre Kitze. Deren Instinkt bewirkt, dass sie sich bei drohender Gefahr am Boden ducken; frisch geborene Kitze sind noch dazu nicht reaktionsschnell. Eine nie genau ermittelte Zahl von ihnen stirbt so grausam unter den Messerscheiben von Kreiselmähern. Jedes Jahr dasselbe Fiasko. Noch dazu, so schildert es der Jäger aus dem Großraum Sinsheim, werden Traktoren immer stärker und schneller, ihre Fahrerkabinen schalldichter und komfortabler, die Arbeitsbreiten der Geräte immer weiter. P. nimmt deshalb auch die Fahrer in Schutz: Oft würden diese es schlicht nicht bemerken, wenn sie ein frisch gesetztes Rehkitz erwischen.
Dass Landwirte und Jäger gemeinsam etwas für den Schutz der Rehkitze tun - auch das ist rund um Sinsheim durchaus üblich, schildert auch Jäger P.: Er selbst postiert Holzpflöcke mit daran befestigten Plastiktüten im Grasland, bevor dieses gemäht wird. Eine Rehgeiß, so P., führe ihr Kitz aus dem Feld, sobald sie die Fahnen sehe oder suche sich, sofern die Geburt kurz bevor stehe, eine andere Kinderstube. Eine weitere Möglichkeit sei es, ein Feld vor dem Mähen mit einem gut geschulten Jagdhund abzulaufen.
"Das steht und fällt aber mit der guten Absprache", hat P. mehrfach erlebt: "Abends um zehn kam der Anruf: Wir mähen morgen früh." Am Mähtag hätte es geregnet, der Einsatz musste verschoben werden, wovon P. dann nichts erfuhr. Die in der modernen Landwirtschaft üblichen schnellen Reaktionszeiten, etwa auf Wetterlagen, liefen oft dem Kitzretten zuwider. "Es kann passieren, dass man was vergisst", ist P. bewusst. Und dass der Rehnachwuchs längst nicht nur Opfer von Landmaschinen, sondern auch von ohne Leine laufenden Hunden, Mountainbike- und Endurofahrern werden, wenn diese im Gelände unterwegs sind.
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Wenn Klaus Abele, Landwirt und Besitzer des Dührener Sandackerhofs vom Mähen und von den Kitzen spricht, hört man heraus, dass er das Rehwild wertschätzt. Er erklärt die Dührener Kitzrettungs-Praxis: Bringt "das Radio schönes Wetter", ruft er einen oder zwei Tage vor dem Mähen den Jagdpächter an, damit dieser Wiesen mit dem Hund abläuft oder, wie P. es macht, Scheuchen ins Feld stellt. Das entbinde Klaus Abele und seine Kollegen vom Sandackerhof nicht davon, "selbst ein bisschen aufzupassen". Abele sagt: "Ich kenne meine Wiesen." Die Rehe, die dort leben, kennt er auch. Er erzählt von einem Stück im Gewann Steinbock, in dem jährlich Kitze zur Welt kommen: "Wenn wir anrücken und ein ausgewachsenes Reh abspringt, halten wir an und gucken selbst nach, wo das Kitz ist."
Bei größeren Wiesenflächen, sagt Abele, beginne er in deren Innern mit dem Mähen und arbeite sich von dort aus zum Feldrand vor: Rehe könnten dadurch nach außen fliehen und würden nicht im Zentrum des Felds zusammengetrieben. "Die Mühe", sagt Klaus Abele, "musst Du Dir machen." Zugute komme ihm, der lediglich Grünfutter auf seinen Wiesen anbaut, dass er später mähen kann als Landwirte, die ihr Grünland als Rohstoff für Biogasanlagen nutzen. Kommen Tiere egal welcher Gattung unter den Mähbalken, so ist das mit Blut und totem Gewebe kontaminierte Heu als Futter übrigens unbrauchbar.
Den derben Spruch, der Jagdpächter P. verärgert hat, hält Klaus Abele für "dummes Zeug"; Bauern und Jäger müssten nach seiner Ansicht "zusammenschaffen". Es gehe den meisten Landwirten sehr nahe, wenn doch einmal ein Rehkitz versehentlich unter dem Mähbalken stirbt.
"Gott sei Dank ist mir das noch nicht passiert", sagt Abele. Kollegen hätten ihm "Geschichten erzählt, die willst du nicht wissen", von verletzten Rehen, die "wie Menschen geschrien" hätten. "Das vergisst Du ein Leben lang nicht."