Östringen: Ex-Verfassungsrichter Paul Kirchhof fordert Rückkehr zur Rechtsverbindlichkeit
Verfassungsexperte Paul Kirchhof prangerte als Gast der Östringer Bürgerstiftung das fatale Außerkraftsetzen von Normen an.

"Es ist verhängnisvoll, dass wir die Gegenwart zum Nachteil kommender Generationen begünstigen", lautete eine der Kernthesen des Präsidenten der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, der mahnend anfügte, dass Kreditaufnahmen der öffentlichen Hand nichts anderes seien als ein Vorgriff auf künftige, jedoch ungewisse Steuerkraft.
"Große Reformen sind alle entstanden, weil wir gemeinsam den Willen zum Besseren hatten!" - mit diesem Verweis auf die grundlegenden Veränderungen, denen sich die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland bei deren Gründung 1949 und ebenso bei der Verwirklichung der Einheit 1989 gegenüber sahen, verband Paul Kirchhof bei seinem Vortrag unter dem Leitmotiv "Deutschland im Schuldensog" die Einschätzung, dass es auch in der immer drängenderen Frage einer nachhaltigen Konsolidierung der Finanzen von Bund, Ländern und Kommunen durchaus gangbare und dabei zugleich auch gesellschaftsverträgliche Wege gibt.
Für Kirchhof, der an der Universität Heidelberg einen Lehrstuhl für Staatsrecht innehat, geht es in Sachen Staatsverschuldung insbesondere auch um eine "Rückkehr zur Verbindlichkeit des Rechts". Den richtigen Ansatz sieht der Heidelberger Rechtsprofessor, der im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 dem Kompetenzteam der damaligen Kanzlerkandidatin Angela Merkel angehörte und als Finanzminister im Gespräch war, in der 2009 durch Änderung des Grundgesetzes vom Verfassungsgeber eingeführten sogenannten "Schuldenbremse", die Bund und Ländern zwingende Vorgaben zur Etatkonsolidierung macht.
Den bitteren Wermutstropfen fügt der frühere Bundesverfassungsrichter mit dem Hinweis, dass der Beginn der an sich zwingend vorgegebenen "Rückzahlung des Staatskredits nun auch schon wieder seit 2011 säumig ist", gleich hinzu.
In der unzulässigen Überdehnung der verfassungsrechtlich und europarechtlich vorgezeichneten Verschuldensgrenzen sieht Kirchhof jedenfalls einen Irrweg. Welche fatalen Mechanismen in Gang gesetzt werden, wenn Normen ihre Verbindlichkeit verlieren, machte er beim Vortrag in Östringen unter anderem am Beispiel des Vertrags von Maastricht deutlich, mit dem 1992 der Rahmen für die Weiterführung der europäischen Integration durch Schaffung einer Währungs- und Wirtschaftsunion gesetzt wurde: "Wenn das damals vorgegebene Regelwerk beachtet worden wäre, hätten wir es heute nicht mit einer solchen Staatsverschuldung zu tun!"
Den Parteien, die derzeit auf Bundesebene um die Details eines Koalitionsvertrags ringen, traut Kirchhof die notwendigen Kurskorrekturen allerdings grundsätzlich durchaus zu. "Dort finden Sie viele sehr nachdenkliche Politiker, die auf eine Stabilisierung der Finanzsysteme drängen", sagte Kirchhof, der sich in Östringen vor seinem öffentlichen Vortrag auch ausgiebig Zeit genommen hatte, mit Oberstufenschülern des Leibniz-Gymnasiums ins Gespräch zu kommen.
Ob er nicht allzu sehr "Gutmensch" sei, wenn er an die Rückkehr zu einer Verbindlichkeit des Rechts und zu einer Kultur des Maßes glaube, lautete eine der Fragen, die Paul Kirchhof aus dem Publikum am Ende seiner Ausführungen gestellt wurden, bei denen er sich unter anderem auch ausführlich den zentralen Themen der Familien-, Renten- und Fiskalpolitik zugewendet hatte. Ein Selbstläufer sei das gewiss nicht, meinte der gebürtige Osnabrücker - und maß einer kontinuierlichen aufklärenden Information durch die Medien ganz entscheidende Bedeutung bei. Dass er bei seinem Publikum den Nerv getroffen hatte, zeigte der anhaltende Beifall, als Bürgerstiftungsvorstand Hartwig Heinzmann den prominenten Gast verabschiedete.