So hilft die Sinsheimerin Dilara Kayacan
Die Friseurmeisterin reist ins türkische Erdbebengebiet, um dort zu helfen und Spenden zu verteilen.

Von Tim Kegel
Sinsheim. Es war, wie in eine andere Welt zu kommen. Aus der lebendigen Großstadt Adana, zehn Stunden Fahrt. Die ersten Trümmerlandschaften tauchen auf. Fortan geht es durch zerstörtes Gebiet, Kilometer für Kilometer für Kilometer. Stechender Leichengeruch. Und Staub. Erinnerungen von der ersten Reise ins Erdbebengebiet in der Südosttürkei im März. "Wie ein Kriegsgebiet", sagt Dilara Kayacan.
Hatay und Kahramanmaras: Auch am Tag vor Christi Himmelfahrt setzte sich Kayacan ins Flugzeug in Richtung Adana, diesmal zusammen mit Tante und Geschäftspartnerin Saniye Yilmaz und deren Mann Ugur. Die zwei Frauen sind Friseurmeisterinnen, haben einen Salon am Zwingergassen-Parkdeck.
Kunden und Freunde haben sie unterstützt, denen Saniye und Dilara "sehr dankbar" sind. Zwei Koffer wurden gefüllt mit Kinderkleidung, Schuhen, kleinen Spielsachen, Süßigkeiten "und Seifenblasen". Im Erdbebengebiet wollen sie die Waren verteilen, mit Geldspenden Hilfspakete kaufen und verteilen sowie Kindern die Haare schneiden. "Das ist ja nur ein Tropfen", sagt Dilara, "aber das können wir tun."
Sie zeigt einen Talisman und das Foto von einem kleinen Mädchen mit leuchtend schwarzem Haar im roten T-Shirt. Die Kleine lacht übers ganze Gesicht, mit großen offenen Augen. Vor der Abreise im März hatte sie den Glücksbringer für Dilara aus Knetmasse gebastelt.
Auch interessant
Sie zeigt Fotos von Massengräbern am Stadtrand. Trümmerberge, unter denen bis heute Tote liegen. Ein tiefer Spalt in der Erdkruste, breit wie eine Straße, der sich über Kilometer durch die karge Landschaft zieht. Bedrückende Videos kursieren: Flammen schlagen aus einem Loch in den Trümmern, es ist ein brennender Keller. Es gibt viele davon, nach wie vor ist es in der Region gefährlich. Wild hin und her schwingende Deckenlampen. Verlassene Zimmer mit aufgetürmter Einrichtung, in deren Wänden Risse klaffen. Und Glassplitter, die sich wie Geschosse in Türen und Decken hineingebohrt haben. Das Vorher-Nachher, hier noch die quirlige Straße mit ihren Kiosken, Bars und Grills, mit Karten spielenden Alten und Jungen auf Mopeds am Abend zuvor. Keine zwölf Stunden später steht ein junger Mann mit einem Saxofon auf dem völlig zerstörten Platz.
Es ist eine Lage, in der man meinen könnte, dass ein Haarschnitt das letzte ist, was die Menschen gerade brauchen. Dilara und Saniye erleben etwas anderes: Die Bewohner der Zeltstädte seien traumatisiert, haben Angehörige verloren; es gibt viele Kinder, die keine Eltern mehr haben: "Es wird nur über ein einziges Thema gesprochen", sagt Dilara, "immer mit denselben Menschen. Das macht einen verrückt." Kämen Fremde in den Ort, die noch dazu dieselbe Sprache sprechen, könnten die im Kleinen viel Gutes bewirken. Nicht nur, aber eben auch bei Kindern: "Du hörst dir das an, bringst auch deine eigenen Themen und Ansichten mit." Dies, aber auch das Haareschneiden, bedeute ein Stück Normalität, Lebensqualität, Pflege und Würde. Und sei’s nur etwas "Glück für den Moment".
Die Wurzeln der beiden sind am Schwarzen Meer. Angehörige haben sie durch die Katastrophe keine verloren, doch kam eine Freundin von Saniyes Mutter bei dem Erdbeben um. Weiterhin in das Gebiet zu fahren und jetzt Helfer mitzunehmen, hat Dilara beschlossen, als sie merkte, "dass das Thema kaum mehr in den Medien ist" und drohte, in Vergessenheit zu geraten, "weil so viel auf der Welt passiert". Dabei höre sie "bis heute von Nachbeben". Besonders tragisch: Stürme und Überschwemmungen trafen ausgerechnet Teile der Region, zerstörten eine ihr bekannte Zeltstadt.
Mit dem Spendengeld von Kunden und Freunden kaufen sie jetzt Lebensmittelpakete, die lokale Hilfsorganisationen in eingerichteten Lagern für kleines Geld anbieten. Mit 15 Euro komme man hier ziemlich weit, zumindest um einigen Menschen konkret zu helfen.
Und so hoffen Saniye und Dilara, dass die Erdbebenopfer in der Osttürkei nicht aus dem Blickfeld geraten. Neben den organisierten größeren Initiativen von Privatleuten, Vereinen oder der Moscheegemeinde könne auch ein kleiner Betrieb wie ihrer relativ einfach einiges bewirken. Unterstützung, sind sie überzeugt, "wird noch viele Jahre gebraucht".