Waibstadt

Aus einem Schneeball kann eine Lawine werden

Rund 50 Besucher kamen zur Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag der badischen deportierten Juden nach Gurs.

18.10.2020 UPDATE: 19.10.2020 06:00 Uhr 2 Minuten, 9 Sekunden
Die Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Deportation von Jüdinnen und Juden in Waibstadt war gleichzeitig Mahnung und Erinnerung, dass derartige Ereignisse nie wieder geschehen dürfen. Foto: Berthold Jürriens

Von Berthold Jürriens

Waibstadt. Es ist schon erschreckend, dass kein Jahr vergeht, in dem die Redebeiträge auf der Gedenkfeier für die deportierten badischen Jüdinnen und Juden nach Gurs am 22. und 23. Oktober 1940 keinen Bezug zur Gegenwart herstellen können. War es im vergangenen Jahr der Anschlag auf die Synagoge in Halle, so sind es 2020 anlässlich des 80. Jahrestags der schrecklichen Ereignisse "Menschen in unserer Gesellschaft, die erneut Sündenböcke suchen", sagte Marion Guttman auf dem Waibstadter Marktplatz. Die Leiterin der Projektgruppe "Judentum im Kraichgau" der Realschule Waibstadt bezeichnete in ihrer Begrüßungsrede vor rund 50 Besuchern die Verschwörungstheoretiker als die neuen Demagogen unserer Zeit. "Wir müssen die Stimme erheben gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus."

Auch der Landtagsabgeordnete Dr. Albrecht Schütte (CDU) prangerte die "Hetze gegen Parlamentarier und andere" an. Man müsse "für unsere Demokratie Stellung beziehen." Er blickte zurück auf die Anfänge der Machtübernahme der Nazis und fragte: "Wie konnte es so weit kommen?" Vieles sei unterschätzt worden, und nur wenige Menschen hätten den Geist der damaligen Verfassung zur Weimarer Zeit mitgetragen. "Damals wie heute muss man aber für die Demokratie eintreten und klare Position beziehen." Für sein Fazit zitierte er Erich Kästner, dessen Worte in Bezug auf die Jahre 1933 bis 1945 auch heute noch Gültigkeit besitzen: " Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist." Weiterhin sei es für ihn eine "Schande, dass Synagogen von Polizisten beschützt werden müssen", und man sehe heute mehr denn je, dass mit dem Ende der Nazi-Herrschaft nicht der Antisemitismus oder Fremdenhass geendet hätte.

Sein historischer Blick und der der Schüler auf die Ereignisse des 22. Oktobers 1940 zeigten ein düsteres Bild. Am letzten Tag des jüdischen Laubhüttenfestes begann das Grauen für die jüdische Bevölkerung. "Verladen auf einen Lkw, wurden die letzten Jüdinnen und Juden aus Waibstadt nach Heidelberg gebracht und von dort mit dem Zug unter unmenschlichen Bedingungen in Richtung Südfrankreich transportiert." Mehr als 6500 jüdische Bürger aus Baden, der Pfalz und dem Saarland fielen der sogenannten Wagner-Bürckel-Aktion zum Opfer. Die Schülerinnen berichteteten von den katastrophalen Zuständen im Internierungslager Gurs, aus dem nur wenigen Inhaftierten die Flucht gelang, und in dem viele vor Hunger starben. Die Verbliebenen wurden ab August 1942 in den Gaskammern von Auschwitz und Lublin-Majdanek ermordet und namenlos in Massengräbern verscharrt.

"Mit dem Verlesen der Namen der Waibstadter Opfer geben wir diesen auch ihre Würde, ihre Identität zurück", sagte Guttmann. Klara Glück, Bertha Glück, Paula Glück, Aron Kahn, Elsa Kahn und Hilda Kahn lauten die Namen der ehemaligen Waibstadter Bürgerinnen und Bürger. Ergänzt mit den Lebensdaten der Opfer, wurden einzelne Kerzen entzündet und vor dem Mahnmal für die Deportierten aufgestellt.

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Respekt, Dank und Anerkennung sprach Schütte der Projektgruppe "Judentum im Kraichgau", dem unterstützenden Verein "Jüdisches Kulturerbe im Kraichgau" und den Verantwortlichen für ihre jahrelange Arbeit aus: "Ihr zeigt damit deutlich, dass man das Andenken an das jüdische Leben im Kraichgau nicht auslöschen kann." Der katholische Pfarrer Jochen Maier sprach als Vertreter der Kirche Gebete, und Bürgermeister Joachim Locher trug zum Abschluss "Gott voller Erbarmen" vor, das als jüdisches Gebet beim Besuch der Gräber von Angehörigen sowie am "Holocaust-Gedenktag" in unterschiedlichen Fassungen gesprochen wird.

Ergreifend und würdevoll umrahmte das Klezmer-Ensemble "Tacheles" die Gedenkfeier, obwohl die Musikerinnen und Musiker zeitweise gezwungen waren, gegen das Glockengeläut der Kirche anspielen zu müssen.

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