Wiesloch

Begegnung statt Ausgrenzung

Schüler tauschten sich bei "Meet a Jew" mit Teilnehmern des Wettbewerbs "Jüdischer Alltag" aus.

29.09.2021 UPDATE: 30.09.2021 06:00 Uhr 3 Minuten, 36 Sekunden
Von seiner Mutter wurde Leon bei seiner Bar Mizwa fotografiert. Mit diesem Foto nahm sie am Wettbewerb „Jüdischer Alltag“ teil. Die Bilder waren im Kulturhaus Wiesloch zu sehen. Foto: Alisa Marhöfer

Von Sabine Hebbelmann

Wiesloch. Alisa Marhöfer ist stolz auf ihren ältesten Sohn Leon. Vor einem Jahr hat sie ihn in einer Mannheimer Synagoge fotografiert, anlässlich seiner Bar Mizwa, dem jüdischen Festtag der Religionsmündigkeit – vergleichbar etwa mit der Konfirmation bei evangelischen Christen. Das Foto hat ihr so gut gefallen, dass sie es beim Fotowettbewerb "Zusammenhalt in Vielfalt – Jüdischer Alltag in Deutschland" einreichte. Mit neun weiteren Fotos war es für eine Wanderausstellung ausgewählt worden, die das Kulturforum Südliche Bergstraße mit der Stadt Wiesloch im Kulturhaus zeigte.

Am letzten Tag der Ausstellung sprachen Mutter und Sohn im Rahmen von "Meet a Jew", einem Begegnungsprojekt des Zentralrats der Juden in Deutschland, mit Schülern und Lehrern des Ottheinrich-Gymnasiums. "Geschichte muss erlebt werden", sagte Dirk Walper, der mit seinen Kolleginnen Simone Hebel und Martina Henßler kurz vor den Ferien für das Projekt angefragt worden war. Die interessierten Gymnasiasten Philipp Brodkorb, António Coelho, Emma Fischer und Felix Pilz erzählten, wie sie mit Kippa durch die Altstadt liefen und dabei keine besondere Aufmerksamkeit bekamen – eine Aktion, die sie selbst durchaus kritisch hinterfragten. "Das kann man nicht an einem Spaziergang festmachen, schon gar nicht, wenn man nicht selbst Jude ist", meinte einer der Schüler.

Mehr nahmen sie von dem Gespräch mit Rabbiner Shaul Friberg von der Hochschule für jüdische Studien mit, der ihnen die Synagoge zeigte und mit ihnen die Fotos des Wettbewerbs anschaute. "Ein weltoffener Mensch, der viel herumgekommen ist und viel erzählt hat", sagte einer der Schüler anerkennend. Walper faszinieren die Gegensätze, die im jüdischen Glauben auftreten und der Humor, der diese überbrückt. Als Beispiel nennt er den Satiriker Ephraim Kishon. Der Hochschul-Rabbiner, den er als charismatisch und humorvoll charakterisiert, habe die Gegensätze deutlich aufgezeigt und die Vielfalt beschrieben.

Auch über den Fotowettbewerb wurde gesprochen. Den ersten Platz gab es für eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Sie zeigt einen Polizisten, der eine große jüdische Buchhandlung in Berlin bewacht. Hinter ihm im Schaufenster ist ein Porträt Kafkas zu sehen. Für den Fotografen drückt das Foto – wie im Begleitheft der Ausstellung zu lesen ist – die traurige Notwendigkeit aus, in der heutigen Zeit jüdische Einrichtungen durch die Polizei schützen zu müssen. Die Schüler fragten Leon nach seiner Meinung. "Ich war nie dort und kann mich nicht mit dem Gewinnerbild identifizieren", sagte er und ergänzte: "Ich glaube, die haben sich was dabei gedacht."

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Mit Gert Weisskirchen vom Kulturforum diskutierten Schüler und Lehrer des Ottheinrich-Gymnasiums Wiesloch. Foto: Hebbelmann

Seiner Mutter ist das Bild zu deprimierend. Weit mehr gefallen ihr die Farbfotos, die Normalität darstellen, lebendiges Gemeindeleben in einer Synagoge, zwei Jungs mit Kippa und Skateboard auf einem Bahnsteig oder ein Mädchen auf einem Hamburger Schulhof, das vor einem Davidstern aus Kreide mit einem Fußkreisel spielt. In ihrem eigenen Foto sieht sie die tiefe Verbundenheit mit der jüdischen Tradition und der Familie.

Alltag strahlte für sie auch das Bild aus, das den Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf in einem türkischen Supermarkt zeigt. Die Art, wie dieser das Produkt in seiner Hand betrachtet, interpretierte einer der Schüler so: "Ob das wohl koscher ist?" Diese Frage brachte die Runde auf die zahlreichen Ge- und Verbote, die es im Jüdischen gibt. Offenherzig gab Leon zu: Ich halte mich nicht an alle Regeln. Als Beispiel nannte er Fisch, der laut Tora Schuppen und Flossen haben muss, um als koscher zu gelten. "Wenn ich Fisch esse, sehe ich nicht, ob da Schuppen dran waren", sagte er. Seine Tante, die alle Vorschriften beachte, pflege zu sagen: "Die koscheren schmecken mir besser."

Auf die Frage, welche Stelle aus der Tora er vorgetragen und wie er sich auf den großen Tag vorbereitet habe, sagte der 13-Jährige: "Adam und Eva und wie Gott die Welt erschaffen hat. Es ist sehr schwer, hebräisch zu lesen, ich hab es auswendig gelernt." Und eine Rede hat er auch gehalten. "Ich habe es so geübt und mich so lange darauf gefreut, ich werde es nicht vergessen."

Anne Maennchen vom Kulturforum Südliche Bergstraße sprach den grassierenden Antisemitismus an, der sich auch in tätlichen Angriffen auf Juden mit Kippa und auf Synagogen wie in Mannheim äußert. Alisa Marhöfer zeigte den Anhänger ihrer Kette, auf dem auf hebräisch steht: "Wenn ich Jerusalem vergesse, soll mir der rechte Arm verdorren." Sie habe schon überlegt, ob sie die Kette im Büro ablegen sollte, hat es sich aber anders überlegt. "Dann wäre der Punkt erreicht, dass ich hier nicht mehr leben möchte. Israel ist für mich ein fremdes Land, aber auch meine Lebensversicherung." Sie wünscht sich Begegnungen wie diese mindestens einmal im Jahr an jeder Schule und meint, Jugendliche sollten mehr über das Judentum lernen. "Jude darf kein Schimpfwort auf Schulhöfen sein."

"Meet a Jew" kann helfen, Begegnungen auch fernab der großen Metropolen zu ermöglichen, sagte Benny Salz, der sich ehrenamtlich in dem Projekt engagiert. Auf die Frage nach Ethnie oder Religion sagte er: "Wer eine jüdische Mutter hat, bleibt für das Judentum immer Jude, auch wenn er oder sie nicht religiös ist."

"Wir vier Schüler haben uns tiefer mit dem Thema beschäftigt. Es würde der ganzen Stufe nicht schaden, mehr zu erfahren", sagte eine teilnehmende Schülerin. Und Leon betonte: "Ich würde mir wünschen, dass man ,Meet a Jew’ gar nicht bräuchte, weil jeder Juden kennt und es keinen Antisemitismus und Rassismus gibt."

Als früherer Lehrer freute sich Gert Weisskirchen über den Austausch und regte an, als junge Menschen die Zukunft in den Blick zu nehmen, egal welchen Glauben man hat. Nach einem musikalischen Intermezzo verlas er die Wieslocher Erklärung zur "Kultur der Vielfalt". Die Leiterin des Kulturamts, Andrea Michels, würdigte das Engagement des Kulturforums: "Sie haben mit gleich fünf großartigen Veranstaltungen dieses wichtige Thema aufgegriffen, herzlichen Dank dafür!"

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