"Fabrikort" Mühlhausen

Die Zigarrenindustrie beschäftigte zeitweise das halbe Dorf

Anfang des 19. Jahrhunderts begann der Tabakanbau, 70 Jahre später arbeiteten Jung und Alt in den Manufakturen vor Ort.

15.11.2020 UPDATE: 16.11.2020 06:00 Uhr 4 Minuten, 40 Sekunden
„Besser als nichts“: In der heimischen Zigarrenindustrie arbeiteten auch viele Frauen für spärlichen Lohn. Repro: Pfeifer

Von Rudi Kramer

Mühlhausen. Mit der Entdeckung Amerikas begann auch die Geschichte des Rohstoffs für gute Zigarren. Kolumbus berichtete, als er 1492 das heutige Kuba betrat, dass die Einwohner "kleine glimmende Stangen rauchten". Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts hatten die Mühlhäuser Landwirte mit dem Anbau der Tabakpflanzen begonnen, da sich Tabak auf dem Markt in Walldorf gewinnbringend verkaufen ließ. Im häuslichen Umfeld kannte man schon eine Weile die Kunst, einen "Stumpen" selbst zu wickeln oder den Tabak zu kauen oder zu schnupfen.

Groß war der Aufwand bei Anbau und Pflege. Zunächst wurden Tausende von – meist im eigenen Frühbeet gezogenen – Tabakpflänzchen benötigt, die einzeln per Hand in den sorgfältig vorbereiteten Boden eingesetzt werden mussten. Bis dann jedes Pflänzchen behackt, geköpft und zwei- bis dreimal gegeizt, bis Zehntausende von Blättern gebrochen und in Schnüre aufgefädelt worden waren, waren viel Fleiß und Ausdauer erforderlich.

Doch gemeinsam, mit Gesang und beim Austausch der neusten Dorfnachrichten, ging die Arbeit leichter von der Hand. Oft aber machte ein einziger Hagelschlag die Mühe eines halben Jahres zunichte. Von starken Gurten zusammengehalten, wurde der Tabak zum Schuppen transportiert, wo die "Bandlien" in den "Gefächern" bis zur jährlichen Einwaage zum Trocknen aufgehängt wurden.

Zu Neujahr gab es für alle eine Brezel. Repro: Pfeifer

Die Tabakanbaufläche in Mühlhausen schwankte nach einer stürmischen Entwicklung Ende des 19. Jahrhunderts kaum. Höhepunkt war das Jahr 1896 mit einer Fläche von acht Hektar. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lag die Fläche kontinuierlich bei noch fünf Hektar. Durch die umwälzenden Veränderungen in der bäuerlichen Dorfgemeinschaft verfügten die meisten Betriebe nicht mehr über die notwendigen Arbeitskräfte. Hinzu kam, dass Tabak ein sensibles Gewächs ist, das leicht vom Blauschimmel, einer gefährlichen Pilzkrankheit, befallen wurde.

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Verantwortlich für den Anbaurückgang war auch der Geschmackswandel der Raucher: weg vom nikotinreichen, dunklen Tabak hin zu hellen, leichteren Zigarettentabaken. Die Beliebtheit der Zigarre sank im Laufe der Zeit. Wurden 1907 auf einer Fläche von fünf Hektar noch 50 Doppelzentner Tabak auf der Gemarkung erzeugt, so wird Landwirt Herrmann Sauer in die Dorfgeschichte als Mann eingehen, der in Mühlhausen den letzten Tabak anpflanzte ...

Doch zunächst stellte sich mit dem Anbau die Frage der Verarbeitung vor Ort. Die Heidelberger Firma Landfried errichtete 1854 in der Hauptstraße eine dreigeschossige Zigarrenfabrik als Filiale des Rauenberger Betriebs. Damit war für die Bevölkerung, die bisher nur von der Landwirtschaft lebte, eine neue Erwerbsquelle erschlossen, welche die Wirtschaftsstruktur Mühlhausens grundlegend umkrempeln sollte. Man versprach sich einen bescheidenen Wohlstand, jedoch brachte die Entwicklung soziale und gesundheitliche Probleme mit sich.

Eine alte Aufnahme der von der Firma Landfried betriebenen Zigarrenfabrik in Mühlhausen. Foto: Pfeifer

"Fabrikort", so nannte der Schulrat aus Heidelberg in einem Visitationsbericht 1867 die Gemeinde. Bereits 1871 gab es im Dorf zwei Zigarrenfabriken, Landfried mit rund 200 und Adam & Hotz mit etwa 30 Arbeitern. 1874 trennten sich Georg Adam und Florian Hotz und gründeten eigene Firmen, Hotz im Obergeschoss des "Badischen Hofs". Als vierter Betrieb kam 1876 die Firma Arnheim & Dinkelspiel hinzu.

Von 1175 Einwohnern arbeiteten jetzt schon 266 in der Fabrik, darunter 84 Jugendliche im Alter von zwölf bis 14 Jahren. Alle Fabriken hatten eine eigene Krankenkasse. 1880 waren es bereits 517 Beschäftigte, 1897 arbeiteten 524 Personen, 34 Prozent der Bevölkerung, in den Zigarrenfabriken. Einen Höchststand erreichte man 1927, als von 1949 Einwohnern 857 (gut 43 Prozent) in neun Fabriken arbeiteten. Mit 22 Betrieben erreichte Mühlhausen 1909 die Höchstzahl an Zigarrenfabriken.

Diese Zahl ging nach dem Ersten Weltkrieg auf 13 Betriebe mit 800 Beschäftigten zurück. Die Zahl schmolz nochmals auf zehn Fabriken mit 790 Beschäftigten im Jahr 1925, wobei nun zunehmend auch von Zuhause aus gearbeitet wurde. Der Rückgang der Zigarrenfabriken setzte sich in den 30er Jahren fort, verstärkte sich nochmals nach dem Zweiten Weltkrieg, als voll- und teilautomatische Zigarrenmaschinen auf den Markt kamen. Mit der Schließung der letzten Betriebe Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre ging die Ära der Mühlhäuser Zigarre zu Ende. Es gab neue Arbeitsplätze am Ort, etwa bei den Effenberger Modewaren, der Elektrofirma Schaub-Lorenz AG oder der Kleiderfabrik Max Berk.

Die Zigarrenindustrie brachte den Menschen einen bescheidenen Wohlstand. Wie sonst lässt sich erklären, dass viele Tagelöhner, die ihr Brot in der 20 Kilometer entfernten Zuckerfabrik Waghäusel verdienten, plötzlich in der einheimischen Zigarrenindustrie arbeiteten? Der Lohn allerdings war anfangs sehr mager. 1878 verdiente ein Wickelmacher je nach Betrieb 50 bis 70 Pfennig, ein Zigarrenmacher eine bis zwei Mark am Tag. Die tägliche Arbeitszeit betrug zehn Stunden.

Ein Lohn, der für viele zum Leben zu wenig und zum Sterben zuviel war.Weihnachtsgeld kannte man damals noch nicht, doch an Neujahr gab es für alle Beschäftigten eine große Brezel. Und so urteilte man damals: "Besser als nichts ist es allemal!" Manchmal jedoch wagten sich Arbeiter aus der Deckung und forderten eine bessere Bezahlung, was "Herrn Landfried" nicht besonders erfreute. Er sperrte seine Beschäftigten am 25. August 1880 "wegen ungeeigneten Benehmens" wochenlang halbtags aus.

Der Tabak kam nicht nur von der Gemarkung, viele der Rohballen wurden mit dem Pferde-Fuhrwerk aus Heidelberg nach Mühlhausen gebracht. Die Ware kam aus Holland, Kuba und Brasilien. Die angelieferten Blätter wurden zunächst angefeuchtet und in dünnen Lagen auf einem Holzgestell gelagert. Bis eine Zigarre fertig war, mussten sich viele Hände regen.

Die Ausripper entfernten aus den Blättern die Rippen, andere schnitten die Blätter zurecht. Die weniger wertvollen Stücke dienten den Wickelmachern als Einlage. Für die Herstellung der Wickel waren verschiedene Holzformen notwendig. Vom Umblatt zusammengehalten, wurde die Einlage in Formen gepresst, gewendet und wieder gepresst, und schließlich wurden die überstehenden Tabakreste abgeschnitten. Die fertigen Wickel lagerten in einem besonderen Raum auf Regalen. Schließlich umrollten die Zigarrenmacher die Wickel mit dem Deckblatt zur fertigen Zigarre. Jetzt war nur noch der Zigarrenkopf mit "Pappe" zu verkleben – und die fertige Ware wurde in ein Kistchen gelegt. Mit etwas Bangen wartete man auf das Urteil des Werkmeisters. Sumatra, Havanna und Brasil, blonde und schwarze, billige und teure Zigarren wurden so hergestellt.

Ein großes soziales Problem war die Kinderarbeit, zwar verboten, aber doch geduldet. Die Schulkinder vom siebten, später erst vom zwölften Lebensjahr an sowie die Jugendlichen waren zwischen sechs und zehn Stunden in der Fabrik. Dazwischen lag der Unterricht von eineinhalb Stunden. Treffend beschreibt Alfons Sieber in seiner Kurzgeschichte "Sumatra, Havanna, Brasil", erschienen im Mühlhäuser Heimatbuch, das Problem: "Franz, Wilhelm und Marie, die drei Geschwister aus dem Oberdorf, gingen nun schon seit fast zwei Jahren in die Fabrik arbeiten, bevor um halb neun der Unterricht begann, Franz und Wilhelm auch am Nachmittag. Es war verboten, die Kinder wussten es, die Eltern wussten es, der Werkmeister wusste es, aber sie brauchten daheim ein paar Mark, um nicht zu verhungern, und das wussten auch alle. Franz und sein Bruder verdienten beide zwei Mark die Woche, Marie nur eine Mark, aber sie war ja auch erst elf."

Aus einem Bericht von 1868 geht hervor, dass die anstrengende Fabrikarbeit für die geistige und körperliche Entwicklung der Kinder gravierende Folgen hatte. Die Statistik zeigt, dass hier auch mit der Keim für die damals im Dorf weit verbreitete Tuberkulose lag, im Volksmund "Schwindsucht" genannt.

Für die Fabrikarbeiterinnen war es nicht einfach, Familie und Beruf in Einklang zu bringen. Die Kirchenbücher des 19. Jahrhunderts teilen mit, wie kinderreich die meisten Familien waren. Mühlhausen hatte mit 47 Geburten auf tausend Einwohner die höchste Geburtenrate des Bezirks Wiesloch. Acht, neun und zehn Kinder waren keine Seltenheit. Entweder mussten die Größeren die Kleinen betreuen oder die Mutter nahm das Neugeborene mit in die Fabrik und legte es unter den Tisch in eine Kiste. Der Werkmeister sah das nicht gern. Doch was sollte er tun? Die Zigarrenfabrik war die einzige Möglichkeit, am Ort etwas zu verdienen.

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