Segelschiff wird für 15-Jährige sechs Monate zum "Klassenzimmer"
Leslie Pöckel fährt auf der "Thor Heyerdahl" von Kiel bis in die Karibik und zurück. Die junge Bammentalerin freut sich, die Eltern auch – aber haben ein wenig "Bammel".


Von Nicolas Lewe
Bammental. Für Leslie Pöckel beginnt am 8. Oktober das wohl bislang größte Abenteuer ihres Lebens. Als eine von 34 Schülerinnen und Schülern wurde sie für das Schulprojekt "Klassenzimmer unter Segeln" (KUS) ausgewählt (siehe Hintergrund). Die RNZ hat sich vor der Abfahrt mit der 15-jährigen Bammentalerin unterhalten, die normalerweise Schülerin am dortigen Gymnasium ist und die zehnte Klasse besucht.
Leslie, wie geht es dir so kurz vor Reisebeginn? Mit welchen Gefühlen siehst du der Reise entgegen?
Ich kann es kaum erwarten, dass es los geht. Die verbleibenden Schultage gehen viel zu langsam vorbei. Ich freue mich, aber ich bin auch aufgeregt, weil ich noch viel für die Reise zu tun habe und es nur noch wenige Tage sind, bis es losgeht.
Welche Vorbereitungen triffst du, bevor es losgeht?
Auch interessant
Es gilt, eine lange Ausrüstungsliste abzuarbeiten. Hinzu kommen Impfungen für die tropischen Regionen, zum Beispiel gegen Gelbfieber. Ich muss Medikamente besorgen, unter anderem zur Malariavorbeugung, und ein gebrauchtes Fahrrad beschaffen, das wir in Kuba nach Benutzung "spenden" werden.
Fürs Projekt selbst musste ich eine "wissenschaftliche Ausarbeitung" über die Kuba-Krise erstellen, eine Beurlaubung von der regulären Schule in Bammental organisieren und so weiter ...
Die Möglichkeiten der Gepäck-Mitnahme dürften begrenzt sein. Wie viel darfst du mitnehmen? Was darf dabei auf keinen Fall fehlen?
Das Gepäck ist auf einen 100-Liter-Seesack und zwei gefüllte Rucksäcke – ein Wander- und ein Tagesrucksack – begrenzt, das alles in der kleinen Kammer an Bord untergebracht werden muss. Auf keinen Fall fehlen darf das "Ölzeug", spezielle wasserdichte und warme Segelbekleidung, gute Wanderschuhe für die Bergbesteigungen, Mückenschutz für die Tropen und ein Tagebuch für meine Aufzeichnungen und Erinnerungen.

Wie und wann bist du auf die Idee gekommen, dass du bei diesem Projekt teilnehmen möchtest?
Ich wusste schon lange, dass ich gerne "weggehen" wollte, also einen Auslandsaufenthalt während meiner Schulzeit machen wollte. Dann erzählte mir vor circa zwei Jahren eine Freundin von dem KUS-Projekt. Schon nach kurzer Zeit, unter anderem nachdem ich die TV-Serie und den Film zu KUS gesehen hatte [Anmk. d. Red.: Gemeint sind die Kika-Serie "KlasseSegel Abenteuer" sowie der Film "My big journey"], war mir klar, dass ich dort mitmachen möchte. Vor gut einem Jahr nahm das Projekt für mich konkret Form an, ich begann mich intensiver darauf vorzubereiten und reichte die Bewerbung schließlich im Februar 2023 ein.
Was kannst du von dem Auswahl-Prozess erzählen? Wie viele Bewerber gab es? Warum fiel die Wahl auf dich?
Es ist ein zweistufiges Auswahlverfahren. Bei der schriftlichen Bewerbung ist das Motivationsschreiben das entscheidende, hier ist man völlig frei in der Gestaltung. Bei mir wurden es fünf Seiten. Es haben sich circa 150 bis 200 Jugendliche beworben. Im März kam die Zusage, dass ich diese Hürde genommen und zum Probetörn vom 14. bis 20. Mai eingeladen wurde. 52 Kinder waren dort dabei. Hier wurde uns das Projekt noch einmal ausführlich dargestellt, sodass wir für uns überprüfen konnten, ob das wirklich etwas für uns ist. Wir wurden auch auf unsere Belastbarkeit hin getestet, zum Beispiel nachts Wache halten, früh in den kalten See springen, mit dem Kajak gegen starke Winde und Wellen anpaddeln, Zelten in strömendem Regen und so weiter. Aus den 52 wurden 34 ausgewählt. Am Ende kam es sicher darauf an, dass man "gruppenkompatibel" ist und nicht sein eigenes Ding dreht, sondern für die Gruppe da ist und gut mit den anderen auskommen kann.
Wie geht es dir damit, dass du Familie und Freunde über einen längeren Zeitraum nicht wie gewohnt täglich sehen kannst? Wie bleibt ihr in Kontakt?
Wir werden unsere Familien für sechseinhalb Monate überhaupt nicht sehen, auch "Begegnungen" mit der Familie während Landaufenthalten sind gar nicht erlaubt. Wir müssen die Handys abgeben und bekommen sie nur an den Landgängen teilweise zurück, daher sind die Kontakte vermutlich eher selten. Tatsächlich werden altmodische Briefe geschrieben in beiden Richtungen, die von pendelnden Crewmitgliedern zum und vom Schiff mitgebracht werden. Ich hatte noch nie in meinem Leben wirklich Heimweh, auch wenn es ein Unterschied ist, ob man für drei Wochen in den Urlaub geht oder für ein halbes Jahr, deshalb weiß ich noch nicht, wie diese Reise auf mich wirkt. Ich werde meine Familie und Freunde bestimmt vermissen, speziell an besonderen Tagen wie Weihnachten oder Neujahr, aber ich weiß, dass ich in einer Gemeinschaft mit vielen tollen jungen Menschen unterwegs bin, auf die ich mich unglaublich freue und die für mich in dieser Zeit bestimmt wie eine zweite Familie sein werden.
Welche Länder sind Teil der Reise? Worauf freust du dich am meisten?
Wir besuchen Teneriffa, die Kleinen Antillen, Panama, Kuba, die Azoren, vielleicht die Kapverden und Madeira. Ich freue mich besonders auf Kuba, weil ich mich durch das Referat schon viel mit dem Land beschäftigt habe und es gerne "in echt" sehen und erleben möchte. Ich freue mich auch auf die Stationen auf kleinen Inseln wie den Antillen und auf Panama, wo wir zwei indigene Bevölkerungsstämme für mehrere Tage besuchen werden. Das wird eine komplett andere Welt dort sein. Den Dschungel und Regenwald in Panama, die Vulkane auf den Kanaren, die Bergbesteigungen ... Es gibt so viel!
Hast du einen besonderen Bezug zum Segeln?
Zum Segeln habe ich bisher noch keinen Bezug beziehungsweise keine Erfahrung. Ich bin mit meiner Familie schon öfters Kanu- und Kajakfahren gewesen, das ist außer Schwimmen alles, was mich bisher mit Wasser verbindet. Mit Segeln verbinde ich Freiheit, und ich hatte irgendwie schon immer "Fernweh" nach der Welt, das passte sehr gut dazu. Da mich Astronomie interessiert, stelle ich es mir sehr spannend vor, das Schiff nach den Sternen zu navigieren. Das werden wir dort auch lernen.
Welche Ziele verbindest du mit dieser Reise? Inwieweit siehst du dich dabei als Botschafterin?
"Kultureller Austausch" und kennenzulernen, wie die Menschen in den zum Teil sehr armen Ländern in der Karibik leben, ihre Kultur, ihr soziales Umfeld und ihnen von unserer Kultur in Deutschland zu erzählen, ist mir tatsächlich sehr wichtig. Ich will auch meine eigenen Grenzen erfahren und erweitern, zum Beispiel 25 Tage ohne Landbesuch über den Atlantik fahren oder hohe Vulkane zu besteigen. Ich freue mich besonders auf das Teamgefühl, das wir zusammen entwickeln werden. Diese Tour wird uns richtig zusammenschweißen. So eine intensive "Gemeinschaft" habe ich noch nicht erlebt und möchte es unbedingt. Als Botschafterin sehe ich mich dann, wenn ich den Menschen dort von meiner Heimat erzähle, von meiner Familie, meiner Schule, meinem Wohnort, meinem täglichen Leben. Wir werden zwei Mal bei Gastfamilien in der Karibik untergebracht sein, insgesamt für mehrere Wochen. Da wird es viele Gelegenheiten geben. Ich werde ein Fotoalbum von meiner Familie und aus Bammental mitnehmen und auch Gastgeschenke von zu Hause überreichen. An Bord bin ich auch Botschafterin von Bammental und Heidelberg und vom Rhein-Neckar-Kreis. Die 34 "KUSis" kommen ja aus ganz Deutschland, darunter viele aus Bayern. Da möchte ich natürlich meine Heimatregion vertreten!
Startet ihr als "Fremde" oder gab es vor dem Start bereits Gelegenheit, sich als Gruppe kennenzulernen?
Wir haben uns alle beim Probetörn schon kennengelernt, dort waren wir fünf Tage lang Tag und Nacht zusammen und seither sind wir schon eine eingeschworene Gemeinschaft, auch wenn es nicht alle vom Probetörn "geschafft" haben. Am 15. September haben wir uns fast alle noch einmal beim Vorbereitungstreffen in Nürnberg gesehen und ausgetauscht.
Wie haben deine Freunde darauf reagiert, als du ihnen erzählt hast, dass du dieses Abenteuer auf dich nimmst?
Sie haben sich alle mit mir und für mich gefreut. Die meisten haben auch gesagt, dass das nichts für sie wäre. Manche haben mich respektvoll als mutig bezeichnet. Sie waren schon auch traurig, dass ich ein halbes Jahr verschwinden werde. Aber insgesamt waren alle sehr positiv.

"Klassenzimmer unter Segeln" ist ein wissenschaftliches Schulprojekt der Uni Erlangen-Nürnberg. Erstmals wurde es 2008 durchgeführt. Kooperationspartner sind die Segelschiff Thor Heyerdahl gGmbH sowie die Kieler Forschungswerkstatt. Den Veranstaltern zufolge sollen die Teilnehmer "ein ganzheitliches Erziehungs- und Bildungskonzept sowie eine gleichberechtigte Förderung von Fach-, Methoden-, Selbst- und Sozialkompetenz" vermittelt bekommen.
Rund 190 Tage lang sind Jugendliche mit Lehrpersonal und erwachsenen Begleitpersonen mit dem Segelschiff "Thor Heyerdahl" unterwegs. Die Abfahrt soll am 8. Oktober stattfinden. Die Bammentalerin Leslie Pöckel reist hierfür bereits am 4. Oktober zum Start- und Zielhafen Kiel. Die Wiederankunft ist circa für den 20. April geplant. Die Route führt über die kanarischen Inseln, den Nordatlantik in die Karibik nach Panama und Kuba und von dort zurück über die portugiesischen Azoren.
An Bord sind dieses Jahr 34 Schüler, 16 Lehrer und die Stammbesatzung. Neben dem Unterricht auf See gibt es eine nautische Ausbildung samt Nachtwache sowie Küchen- und Putzdienst. In mehreren Ländern sind Exkursionen und mehrwöchige Landaufenthalte geplant – Stichwort: Biologie-Unterricht im Regenwald oder Geologie-Unterricht am Vulkan. Die Unterbringung in Gastfamilien ermöglicht das Kennenlernen anderer Kulturen. (lew)
Eltern sehen die Reise mit Stolz und Sorge
15-jährige Tochter sechs Monate auf See zu wissen, wird nicht leicht
Bammental. (lew) Leslies Vater Daniel Pöckel zeigt sich gegenüber der RNZ stolz über das Vorhaben seiner Tochter. "Vermutlich zum ersten Mal ist mit Leslie ein Kind aus Bammental dabei und vertritt somit unsere Heimatregion auf dem Schiff und in der Welt", betont er.
Ihm gefalle es, dass die Kinder die fremden Länder nicht als Touristen besuchen, "sondern vielmehr mit den neugierigen Augen eines Kundschafters oder Forschers". Jeder Teilnehmende sei dazu angehalten, ein Gastgeschenk aus der Heimat mitzubringen und anhand dessen einen Einblick in das Leben in Deutschland zu geben.
Wie es sich anfühlt, die 15-jährige Tochter auf eine solche Reise zu entlassen? "Gemischt", beschreibt der Vater seine Gefühle. Er freue sich und sei stolz, dass sich Leslie dieses Abenteuer ermöglichen konnte und eine ganz prägende Erfahrung für ihr Leben machen wird. Andererseits würden ihn schon auch größere Sorgen umtreiben: "Ein kleines Segelboot, allein für fast vier Wochen auf dem Atlantik ohne Kontakt zu ,Land’, da können viele Sachen passieren", meint Daniel Pöckel.
Sein Albtraum seien Extremwettersituationen, starke Stürme, Riesenwellen und dergleichen. "Ich selbst würde mich nicht auf so eine Schifffahrt begeben", sagt er. Seine Frau sei da entspannter. "Sie meint, das sei 15 Jahre gut gegangen, wieso sollte es jetzt anders sein."
Umsonst sei die Reise im Übrigen auch aus finanzieller Sicht nicht. "Die Reisekosten betragen genau 21.825 Euro", berichtet Daniel Pöckel. Hinzu komme ein "Taschengeld" von 720 Euro sowie die Kosten für die persönliche Ausrüstung. Von ihren Großeltern habe Leslie einen "stattlichen Betrag loseisen" können, zudem wolle man einen Antrag auf Auslands-Bafög stellen.
Unter dem Strich fällt Leslies Vater zur Finanzierungsfrage ein pragmatisches Urteil: "Es ist eine einmalige Chance für sie, daher soll es nicht am Geld scheitern – diese Chance ist nur jetzt in der 10. Klasse, also carpe diem!" Lebe den Tag. Oder in diesem Fall besser: Lebe deinen Traum. lew