Essig riecht man hier schon lange nicht mehr (plus Fotogalerie)
Lost Place: Die RNZ hat sich in der verlassenen Fabrik umgeschaut. 64 Wohnungen sollen hier entstehen.

Von Caspar Oesterreich
Gundelsheim. Ein intaktes Einmachglas sucht man vergeblich. Fast bei jedem Schritt knirschen Scherben unter den Schuhen. Anstelle des Essiggeruchs steigt einem jener von Schimmel, Staub und Urin in die Nase, statt Feinkost findet man alte Akten und Arbeitsnachweise. Es gibt viel zu entdecken im lange verlassenen Industriekomplex der einstigen Gundelsheimer Konservenfabrik. Das Backsteingebäude hat wahrlich eine Geschichte zu erzählen – die auch längst noch nicht zu Ende ist.
"Die here" (Stirb hier) hat jemand mit schwarzer Farbe neben den Eingang zu einer Laderampe geschmiert. Wohl eher Scherz als ernst gemeinte Warnung, wobei ein falscher Schritt im Keller der Fabrik schnell schmerzlich enden könnte. Allein schon der Bauschutt, der sich zwischen den vielen Säulen häuft, bietet so manche Stolperfalle.
Und die zwei tiefen Löcher im Boden machen das Ganze nicht unbedingt behaglicher. In einem davon steht sogar eine Leiter. Hinunterklettern? Besser nicht, ein Foto von oben reicht, und angenehm duftet es da unten auch nicht.
Lieber wieder raus aus dem Untergrund, auf den großen Platz rund um den markanten Schornstein, wo bis vor Kurzem noch Baracken standen. Mittlerweile sind sie abgerissen worden, ein neuer Wohnkomplex soll hier einmal gebaut werden. Schornstein und Backsteingebäude wollen Stadtverwaltung und Investoren erhalten und sanieren.
Viel Arbeit haben die Projektentwickler sich da vorgenommen. Zu Hochzeiten arbeiteten rund 650 Menschen in der Konservenfabrik. Wer heute den von Pflanzen überwucherten Eingang an der Seite entdeckt und den passenden Schlüssel dabei hat, wird erst einmal von gut einem Dutzend Spinnen begrüßt, die ihre Netze quer über den Türrahmen gespannt haben.
An den achtbeinigen Bewachern vorbei, führt der Weg weiter durch ehemalige Büros. Zwei graue Röhrenmonitore liegen da, umschlungen von einem Wust aus Kabeln. Und sogar eine ausgediente Schreibmaschine versteckt sich zwischen herausgerissenen Dämmmaterial und schwarzen Müllsäcken.
Nach den Büros dann Leere. Säulen prägen die dahinterliegende riesige Halle, einsam steht ein Stuhl in deren Mitte. Graffiti überziehen fast jede Wand. Vereinzelt durchaus kunstvoll, sind es großteils Schmierereien, Penisse in Gelb oder Grün, die unbekannte Sprayer hinterlassen haben.
Nur ein paar Werbeposter und Preiszettel auf dem Boden zeugen davon, dass hier bis Anfang der 2000er-Jahre noch Konserven im Werksverkauf angeboten wurden. Einen Liter Aroma-Senf (mittelscharf) im Eimerchen gab’s für 25 Cent, Senfgurken im Glas (2650 ml) für einen Euro. Wer sehnt sich da nicht zurück?
Ein Stockwerk höher machen zwei riesige Tresore neugierig. Der eine ist umgeworfen, liegt auf der Tür und lässt sich keinen Millimeter bewegen. Der andere steht dafür sperrangelweit offen, Schubladen hängen heraus. Kostbarkeiten sucht man hier vergeblich, dafür bedecken Hunderte Papiere den Boden.
Stundenzettel von 1966 (eine Schicht dauerte zehn Stunden) finden sich zwischen Bestellscheinen aus den 70er- und 80er-Jahren. Interessant: Während den meisten Großabnehmern ein Rabatt von drei bis fünf Prozent gewährt wurde, bekam Karstadt in Hamburg-Billbrock "10 % auf den alten Preis".
Wer sich über zwei ebenso wackelige wie schmale Treppen bis ganz nach oben in den "elektrischen Betriebsraum" wagt, wird mit einem tollen Ausblick über die Stadt belohnt. Durch ein zerbrochenes, ausgehängtes Fenster ist Schloss Horneck in der Ferne gut zu sehen, auf der anderen Seite der markante Schriftzug "Feinkost Konserven" direkt vor der Nase. Auch dieser soll erhalten bleiben, wenn aus der obersten Etage Appartements werden.
Im Moment trifft es der Begriff "Lost Place" wohl am besten, um die verwahrloste Anlage neudeutsch zu umschreiben. Verlassen soll sie aber nicht mehr lange bleiben. Insgesamt 64 Wohnungen plant die eigens für das Vorhaben gegründete db-Lohgraben Projekt GmbH auf dem Gelände: 41 im Backsteingebäude sowie 23 im Neubau. In diesem soll außerdem ein Kindergarten mit drei Gruppen Platz finden, wie Geschäftsführer Dieter Doebelin im Gespräch mit der Rhein-Neckar-Zeitung erklärt.
Zwischen 20 und 22 Millionen Euro wollen er und zwei weitere Investoren in das Bauvorhaben investieren. "Die Wohneinheiten werden nach derzeitigem Planungsstand voraussichtlich eine Fläche zwischen 40 und 160 Quadratmetern haben", erläuterte Doebelin sein Konzept. Ob es sich dabei um Miet- oder Eigentumswohnungen handeln wird, ließ er offen. Um Raum für Stellplätze zu schaffen, sei neben 27 oberirdischen Parkplätzen der Bau einer Tiefgarage mit 37 Stellflächen vorgesehen.
Den Vorentwurf sowie die Aufstellung eines Bebauungsplans hat der Gemeinderat vor fast einem Jahr schon durchgewunken. "Was die gegenwärtige Marktsituation betrifft, so kann ich sagen, dass wir derzeit eine Rolle rückwärts am Immobilieninvestment-Markt erleben", erklärt Doebelin. "Insbesondere unsere institutionellen Kunden zeigen größte Zurückhaltung, was kurz- bis mittelfristige Transaktionen anbelangt."
Ein spürbarer Anstieg der Fremdkapitalkosten, unübersehbare konjunkturelle Risiken aufgrund der galoppierenden Energiekosten sowie unverändert hohe Baustoffpreise und Fachkräftemangel würden Projektentwickler zurück in ein hohes Risiko bringen. "Wir haben da noch großes Glück, in einem wirtschaftlich gesunden, ja sogar expansiven Umfeld agieren zu dürfen."