Legitime Ängste treffen auf Desinformation
Bei der Kundgebung von "Buchen steht auf" auf dem Walldürner Schlossplatz zeichnen mehrere Redner ein falsches Bild der Pandemie.

Walldürn. (jam) 100 bis 120 Leute hat es am Donnerstag auf den Walldürner Schlossplatz gezogen, um an einer Kundgebung der Bewegung "Buchen steht auf" teilzunehmen. Die Besucher vor Ort machen keinen Hehl daraus, dass sie mit der aktuellen Politik unzufrieden sind: Einige sorgen sich vor allem um ihre Kinder, die unter der Pandemie und den damit verbundenen Einschränkungen im Alltag leiden, andere wähnen sich sogar in einer Corona-Diktatur. Und genau da liegt das Problem: Die Redner auf der Kundgebung vermengen die gerechtfertigte Kritik an politischen Entscheidungen mit eigendienlichen Falschinformationen. Damit schädigt sich die Bewegung selbst und entzieht denen die Glaubwürdigkeit, die bei den Demonstrationen legitime Ängste äußern.
Nicht rechts, nicht links, aber radikal
Lauscht man vor allem bei der Mehrheit der Redner, aber auch bei einigen Zuhörern, entsteht der Eindruck, dass sie sich innerhalb der eigenen Filterblase radikalisiert haben – nicht unbedingt in eine der beiden Richtungen des politischen Spektrums, sondern dahingehend, dass sie für neue seriöse Informationen und Erkenntnisse rund um die Pandemie nicht mehr zugänglich sind. So verbreiten sie auf der Kundgebung für ihr Publikum längst widerlegte Behauptungen, die einer kritischen Überprüfung nicht standhalten.
Hintergrund
Kommentar: Widerspruch
Es reicht nicht, immer wieder über sich selbst zu behaupten, für Frieden und Demokratie einzustehen. Wenn die Initiatoren der Kundgebung – wie Michael Reichert aus Götzingen – von "Plandemie" statt Pandemie reden oder – wie Jörn
Kommentar: Widerspruch
Es reicht nicht, immer wieder über sich selbst zu behaupten, für Frieden und Demokratie einzustehen. Wenn die Initiatoren der Kundgebung – wie Michael Reichert aus Götzingen – von "Plandemie" statt Pandemie reden oder – wie Jörn Glotzbach aus Modautal – Masken jeglichen Nutzen absprechen, dann offenbaren sie, wessen Geistes Kind sie sind. Sie verbreiten damit gefährliche Falschinformationen. Der extreme Irrglaube, es gebe keine Pandemie oder eine machthungrige Elite täusche diese vor, entwickelt sich unter Umständen dann, wenn sich Gleichgesinnte abgeschottet in einer Filterblase (wie dem Telegram-Chat von "Buchen steht auf") gegenseitig dazu ermutigen, irrationale und unwissenschaftliche Weltbilder zu akzeptieren. Welche Ausmaße dieser Sturz in den Kaninchenbau annehmen kann, offenbart am Donnerstag eine Rednerin, die voller Überzeugung auf der behördlich genehmigten Demonstration frei ihre Meinung äußert, dass sie ihre Meinung nicht mehr äußern darf. Dafür gibt es auf der Kundgebung Applaus, im Alltag erntet man für solche Aussagen wohl eher ein Kopfschütteln. Und das ist gut so. Denn wer Meinungsfreiheit für sich beansprucht und gleichzeitig einfordert, dass andere zuhören, muss hinnehmen, dass nicht jeder diese Meinung teilt, sie unter Umständen sogar ablehnt oder – wenn sie nachweislich absurd ist – sich darüber lustig macht. Jeder darf (fast) alles sagen – nur nicht unwidersprochen. (Jam)
Den Auftakt macht Initiator Michael Reichert aus Götzingen, der im Infektionsschutzgesetz eine "weitere Entmachtung der Demokratie" sieht und den Mainstream-Medien vorwirft, nicht ausgewogen zu berichten. Als alternative Informationsquelle empfiehlt er den in Limbach niedergelassenen Arzt Gert Dorschner, der in einer "Informationssammlung" leugnet, dass überhaupt jemand "an Corona" gestorben sei. Danach meldet sich der Walldürner Franko Lohan zu Wort, der mit der Rhetorik eines Büttenredners einen scheinbaren Wandel im Verhalten der Polizei gegenüber der Bevölkerung anprangert. Antje Benner berichtet anschließend aus ihrem harten Alltag als Tagesmutter. Die Pandemie und die Entscheidungen der Politik hätten für sie "das Aus meiner Existenz" bedeutet: "Die Eltern können sich keine Betreuerin mehr leisten", klagt sie. Deshalb schlägt sie unter Applaus vor, "einfach Schluss mit Corona zu machen". Wie das konkret funktionieren soll, bleibt offen.
Wissenschaftlicher Anstrich
Auch interessant
"Was nichts nützt, sind Masken", behauptet anschließend Initiator Jörn Glotzbach aus Modautal. Damit widerspricht er zwar dem wissenschaftlichen Konsens, versucht aber dennoch, seiner Meinung einen Anstrich von Seriosität zu verleihen, indem er auf drei angebliche Metastudien verweist. Dabei bedient er sich – sofern es diese drei besagten Studien überhaupt gibt – eines klassischen Tricks, um seine Zuhörer zu beeinflussen und Desinformation zu verbreiten: der Rosinenpickerei, bei der man Informationen bewusst lückenhaft auswählt, so dass sie bei isolierter Betrachtung die eigene Position zu stützen scheinen. Dass Behauptungen wie die von Glotzbach Konsequenzen für das echte Leben haben, zeigt sich auf der Kundgebung. Viele Zuhörer tragen mehr als ein Jahr nach Beginn der Pandemie ihre Maske nicht korrekt über der Nase, eine Dame trägt sogar statt OP- oder FFP2-Maske nur ein Netz, obwohl das Ordnungsamt vor Ort bestätigt, dass Zuhörer eine medizinische Maske tragen müssen.
Wer manipuliert?
Später wirft Jörn Glotzbach der ARD Manipulation vor, weil sie seiner Ansicht nach willkürlich die Farben der Inzidenzkarte angepasst habe, um den Eindruck zu erwecken, "alle werden sterben". Tatsächlich hat die Tagesschau aber lediglich neue Klassen einführen müssen, nachdem die Inzidenz ab Mitte Dezember mit Werten jenseits der 100 und 200 in zuvor unerreichte Höhen kletterte. Eine veränderte Skala ergibt sich nur, wenn man die offizielle Karte aus dem Web mit einer seltener genutzten Variante aus Fernsehbeiträgen vergleicht.
Glotzbach, der davor warnt, dass es nach dem "Reinjagen" einer Impfung "keinen Weg zurück" gebe, ruft dann "Brigitta" dazu auf, die Zuhörer über die Covid-Impfstoffe zu informieren. Referenzen, die die Rednerin dazu qualifizieren könnten, über ein derart komplexes Thema zu referieren, werden nicht genannt. Erwartungsgemäß problematisch beginnt ihr Vortrag, der mit derart vielen Falschinformationen und aus dem Kontext gerissenen Zahlen aufwartet, dass in den Köpfen der Zuhörer nur ein verzerrtes Bild entstehen kann. Sie behauptet: "Man bekommt durch die Impfung keine Antikörper." Das stimmt nicht, wie unter anderem ein Langzeittest im "New England Journal of Medicine" gezeigt hat. Sechs Monate nach der zweiten Impfung hatten Probanden in allen Altersklassen ein hohes Niveau an Antikörpern gegen Covid-19. Zudem vernachlässigt "Brigitta" in ihrem Vortrag, dass nicht Antikörper allein im Kampf gegen das Virus entscheidend sind, sondern das Immunsystem auch auf die zelluläre Abwehr setzt.
Studienergebnisse frei erfunden
Eine weitere Falschinformation schreibt sie dem Immunologen Stefan Hockertz zu: Bei einer Studie des Friedrich-Löffler-Instituts (FLI) seien alle 20 geimpften Frettchen nach Kontakt mit dem Wildvirus gestorben, während die Tiere in der Kontrollgruppe die Infektion überlebt hätten. Das FLI dementiert dies: "Bei dieser Studie ist kein Tier in Zusammenhang mit der Gabe des Impfstoffprototypen erkrankt oder verstorben." Kurz darauf setzt "Brigitta" bei einem Blick auf offizielle Zahlen des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) Verdachtsfälle mit Nebenwirkungen gleich. Das PEI betont jedoch, dass unerwünschte Reaktionen im zeitlichen, nicht aber unbedingt im ursächlichen Zusammenhang mit einer Impfung gemeldet werden. Und in diesem Muster setzt "Brigitta" ihren Vortrag fort und verbreitet dabei mehr Desinformation, als sich in einem Artikel richtigstellen lässt.
Ein "Labor", das Mut macht
Gegen Ende bezeichnet sie – frei nach dem Vorstandsvorsitzenden des Pharmakonzerns Pfizer – Impfweltmeister Israel als "Labor der Welt". Was sie verschweigt: In Israel, in dem bereits mehr als die Hälfte der rund neun Millionen Einwohner zweimal gegen Covid-19 geimpft wurden, nähern sich die Fallzahlen entsprechend der Impfreihenfolge von alt nach jung der Nulllinie, Bars und Restaurants haben geöffnet und Israelis müssen im Freien keinen Atemschutz mehr tragen.
Nachdem einige Zuhörer – darunter eine Hotelbetreiberin, die über die Not ihrer Branche berichtete – das Wort ergriffen hatten, kündigt Michael Reichert weitere Aktionen der Gruppe "Buchen steht auf" an. Geplant seien ein "Corona-Infomobil", um "Uninformierte zu informieren", Mahnwachen an Schulen sowie mehrere Netzwerke – darunter eines für Menschen, die auf der Suche nach einem Arzt sind, der ihnen eine Maskenbefreiung ausstellt.