Verzweiflung und Kirchenaustritt
Wie der frühere Speyerer Generalvikar Andreas Sturm an der römisch-katholischen Kirche verzweifelte und schließlich austrat. Er hat ein Buch geschrieben.

Von Alexander Albrecht
Speyer. Raus. Nur noch raus. Raus aus dieser Kirche. Die Missbrauchstäter viel zu lange deckte. Frauen die Weihe vorenthält. Queere Menschen nicht wirklich akzeptiert. Und die eisern festhält am Pflichtzölibat, der viele Priester krank macht und vereinsamt zurücklässt. Schreibt Andreas Sturm. Er ist ist raus, im Mai aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten. Ein drastischer Schritt. Sturm war Generalvikar in Speyer, zweiter Mann im Bistum der Domstadt nach Bischof Karl-Heinz Wiesemann. Ganz oben in der Hierarchie. In einem Buch schildert der Geistliche seine Motive und warum er lieber als Priester in der altkatholischen Kirche praktizieren will. Schon der Einband verspricht "Klartext".
Das knapp 192 Seiten fassende, lesenswerte Werk ist fast zeitgleich zu seinem Rücktritt erschienen. Was dafür spricht, dass sich Sturm lange Gedanken gemacht hat. Tatsächlich habe es nicht den einen "großen Knall" gegeben, vielmehr sei es ein langsamer Prozess gewesen. Der 47-Jährige beschreibt wortmächtig sein inneres Ringen, das Zweifeln, die Zerrissenheit, das "Tohuwabohu" in seinem Kopf bis hin zur völligen Entfremdung. Es sollen keine "letzten Wahrheiten" sein – und doch glaubt Sturm, all jenen aus dem Herzen zu sprechen, die wie er die Hoffnung auf Reformen und Veränderungen verloren haben. Im vergangenen Jahr kehrten so viele Menschen wie noch nie der römisch-katholischen Kirche den Rücken.
"Umgehauen" haben Sturm vor vier Jahren die Ergebnisse einer Studie im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz. Die schiere Zahl an Missbrauchstätern und Opfern – "da ist in mir etwas zerbrochen". Vorherige Hinweise auf die Verbrechen habe er nicht wahrhaben wollen, gesteht der gebürtige Frankenthaler. Stattdessen vertrat der Generalvikar die Auffassung, der Missbrauch innerhalb der Glaubensgemeinschaft sei im Vergleich zur Gesamtgesellschaft deutlich niedriger. Nun musste er sich eingestehen: "Meine Kirche ist nicht besser als der Durchschnitt, sondern um ein Vielfaches schlimmer." Und stellte entsetzt fest, dass es den Oberhirten in der Folge besonders darum gegangen sei, die Institution zu schützen.
Sturm führte viele erschütternde Gespräche mit Betroffenen und wünschte sich oft, "dass die Täter das alles anhören müssten". Die meisten waren freilich schon lange tot. Dass er die finanziellen Forderungen der Opfer häufig ablehnen oder zumindest deren Höhe reduzieren musste, treibt ihn bis heute um. Als größtes Versagen kreidet Sturm den früheren Kirchenleitungen an, mutmaßliche Missbrauchsfälle nicht sofort angezeigt und die Staatsanwaltschaft informiert zu haben. "Dann hätte der Rechtsstaat Klarheit schaffen können." Er selbst hatte bei keinem Betroffenen den Eindruck, dass ihm ein Theater vorgespielt werde. Auch nicht bei dem Mann, der nachweislich zu Unrecht behauptete, Speyerer Ordensschwestern hätten Kinder gegen Geld an Geistliche vermittelt und damit in die Prostitution getrieben. "Ich habe keinen Zweifel daran, dass er Missbrauch erlebt hat", so Sturm. Ihn als "kompletten Lügner" abzustempeln, sei eine massive Demütigung.
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In kleinerem Kreis wagte es der Pfälzer, hier und da "Unfehlbarkeiten" in Frage zu stellen. So sei er langsam mutiger geworden und habe zum Beispiel für die Frauenordination Partei ergriffen. Um dann doch wieder zurückzurudern, aus Angst, von der Gemeinschaft zu den "Laxen und Lauen" gezählt zu werden. Für hochproblematisch hält Sturm den für die Priesterweihe obligatorischen Zölibat. Denn wenn für den Priester jede Form gelebter Sexualität moralisch eine Sünde sei, dann werde alles nivelliert: ob jemand mit einer Frau oder einem Mann zusammenlebt oder sich an Kindern vergeht. Ja, es gebe sie, die Geistlichen, die im Zölibat ihre Erfüllung fänden. Allerdings sei das nur eine kleine Gruppe.
Er selbst hat es mit der Enthaltsamkeit weniger genau genommen. "Es gab in meinem Leben Beziehungen, und ich weiß leider nur zu gut, wie sehr ich durch Heimlichtuerei Menschen verletzt habe", schreibt Sturm. In der Zukunft könne er sich vorstellen, eine Familie zu gründen. "Ich gehe derzeit nicht in die aktive Planung. Aber ich glaube, ich könnte glücklicher werden mit einer Partnerin an meiner Seite." Der endgültige Bruch mit der römisch-katholischen Kirche nahm am 15. März 2021 seinen Lauf. An diesem Tag bekräftigte die Glaubenskongregation, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht zu segnen sind. Sturm vermutet, dass die Diskussionen beim Synodalen Weg einigen Erzkonservativen nicht gepasst haben, woraufhin sie die Glaubenskongregation eingeschaltet hätten. "Die Antwort kam prompt und war nach römischer Art eindeutig: ein weiteres Verbot". Doch dieses Mal fraß er den Frust nicht wieder in sich hinein, sondern stellte sich öffentlich gegen den Vatikan. "Ich habe Wohnungen, Autos, Fahrstühle und unzählige Rosenkränze gesegnet und soll das bei zwei Menschen nicht tun dürfen, die sich lieben?". Das könne nicht Gottes Wille sein. Mit seinen Reformbemühungen sei er jedoch auf viele taube Ohren gestoßen. Die Euphorie mancherorts für den Synodalen Weg teilt Sturm nicht – "solange Rom glaubt, es müsse alles überall wie eine Konzernzentrale steuern". Ein Problem liege aber auch in der Logik des Dokuments, vieles über Selbstverpflichtungen zu lösen. So laufe man Gefahr, dass wieder nur der Gnadenakt eines wohlwollenden Bischofs die Voraussetzung für Partizipation ist.
Nein, Sturm rechnet in absehbarer Zeit nicht mit Veränderungen. "Ich habe die Hoffnung und Zuversicht verloren, mein Herz ist leer – wie tot." Die römisch-katholische Kirche sei kurz davor, an die Wand zu fahren. Sturm hofft, dass er sich irrt. Schließlich habe er der Kirche "unglaublich viel zu verdanken", weshalb sein Buch auch keine Abrechnung sein, sondern den riesigen Reformbedarf aufzeigen solle. Gleichzeitig freut sich Sturm darauf, künftig als Priester für die Altkatholiken am Bodensee zu arbeiten – die nicht an die Unfehlbarkeit des Pontifex glauben. Er bereue den Schritt nicht, bittet aber alle um Verzeihung, die er enttäuscht und verletzt hat. "Ich hatte keine Kraft mehr."
Info: Andreas Sturm: "Ich muss raus aus dieser Kirche", Herder-Verlag, ISBN: 978-3-451-03398-8, 192 Seiten, 18 Euro.