Seit zehn Jahren gibt es die Prostituierten-Beratung "Amalie"
"Wir sind noch lange nicht am Ziel". Es gibt den Wunsch nach einem einheitlichem Ausstiegsprogramm.

Von Heike Warlich
Mannheim. "Es waren dicke Bretter zu bohren": Mit diesen Worten erinnerte Jessica Lammer zum Auftakt der Pressekonferenz an die Anfänge von "Amalie". Das Konzept der Beratungsstelle für Frauen in der Prostitution basierte auf einer wissenschaftlichen Arbeit, so die Pressesprecherin des Diakonischen Werkes. Julia Wege, die Verfasserin dieser Arbeit, leitete "Amalie" ab der Gründung im Jahr 2013 bis Ende 2021. Ihre Nachfolgerin Astrid Fehrenbach zog jetzt gemeinsam mit ihrem Team und Diakonie-Direktor Michael Graf eine Bilanz nach zehn Jahren.
Fehrenbach bezeichnete die Situation der Prostituieren in der Neckarstadt-West als "ausgesprochen prekär". Umso wichtiger sei es, ihnen mit dem Frauencafé einen Schutzraum in einer einladenden Atmosphäre anzubieten. Auch die regelmäßige gynäkologische Sprechstunde für Frauen ohne Krankenversicherung gehört zu den bewusst niederschwellig gehaltenen Angeboten. "Wir nehmen jede Frau an, wie sie ist", betonte Fehrenbach.
Hintergrund
> Wie "Amalie" ins Fernsehen kam: Man kann nicht gerade sagen, dass Güner Balci sich die idyllischsten Arbeitsplätze aussucht. Seit 2020 ist die Deutsch-Türkin Integrationsbeauftragte in Berlin-Neukölln, einem Stadtteil mit hoher Zuwanderungsquote und vielen sozialen
> Wie "Amalie" ins Fernsehen kam: Man kann nicht gerade sagen, dass Güner Balci sich die idyllischsten Arbeitsplätze aussucht. Seit 2020 ist die Deutsch-Türkin Integrationsbeauftragte in Berlin-Neukölln, einem Stadtteil mit hoher Zuwanderungsquote und vielen sozialen Herausforderungen. Von Haus aus ist Balci Journalistin und drehte eine Dokumentation über die Neckarstadt-West, die kurz vor ihrem Rollenwechsel im ZDF ausgestrahlt wurde. Ihr zentraler Befund – ein vergessenes Viertel als Synonym für Armut und Abstieg – sorgte für reichlich Wirbel. Der damalige Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD) wies die Kritik entschieden zurück.
Dabei stand seinerzeit mit Julia Wege auch die damalige "Amalie"-Leiterin als eine von drei Protagonisten für die Doku und ihre Botschaften Patin. Eine Prostituierte erzählte in den geschützten Räumen der Beratungsstelle von ihrem Leben voller Angst und Abhängigkeiten. Vor Corona habe sie für die Zuhälter 200 bis 250 Männer im Monat bedienen müssen. Während sie sich als eine der wenigen an die Hygieneauflagen und Kontaktverbote halte, machten Kolleginnen weiter. Weil sie dazu gezwungen würden oder dringend Geld für ihre Familien in der südosteuropäischen Heimat bräuchten.
Eine weitere Betroffene erzählte in dem sehenswerten Beitrag, sie müsse ständige ihre Kinder in Bulgarien belügen und verspreche ihnen, bald nach Hause zu kommen. Tatsächlich schaffte sie an. Damals hatten Wege und ihr Team bereits 90 Frauen aus der Prostitution geholt. alb
Die Lebensbedingungen für die Frauen, von denen der überwiegende Teil aus Südosteuropa stammt, hätten sich kaum verändert: Fehlende Krankenversicherung, keine eigene Wohnung, ein ungeklärter Aufenthaltsstatus. Die Frauen leben stattdessen in ihren "Arbeitszimmern" und sind somit jederzeit verfügbar. Sie erfahren körperliche und seelische Gewalt. Dazu komme häufig der Druck, das notwendige Geld zusammenbringen zu müssen, damit zu Hause die häufig bei der Familie zurückgelassenen Kinder versorgt werden können.
Der Traum von einem besseren Leben ist längst zerplatzt. Die Frauen sind im Milieu gefangen und kennen von Mannheim nicht mehr als die Neckarstadt. Aus diesem Grund setzt "Amalie" auch auf Streetwork, um die Frauen zu erreichen. Viele sind so abhängig und verängstigt, dass sie kaum den Mut aufbringen, sich zu wehren, geschweige denn alleine auszusteigen.
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Auch wenn "Amalie" in den vergangenen zehn Jahren 433 Frauen in Hunderten von Beratungsgesprächen professionell betreut und etwa 100 beim Ausstieg begleitet hat, lautet das Resümee der Verantwortlichen: "Wir sind noch lange nicht am Ziel".
Was man sich wünscht, ist ein tragfähiges Konzept von Anfang an. Ein staatliches, bundesweit einheitliches Ausstiegsprogramm. So wie in Frankreich, wo der Staat das Aufenthaltsrecht sichert, Krankenversicherung und Wohnung zur Verfügung stellt, und damit die existenzsichernden Grundvoraussetzungen schafft. Die Sozialarbeiterinnen können sich auf die psychosoziale Arbeit konzentrieren – und haben damit immer noch alle Hände voll zu tun.
Denn bis sich eine Frau überhaupt zum Ausstieg entschließt, kann es Jahre dauern. "Ausstieg ist eine sehr intensive Arbeit", weiß Sozialarbeiterin Lea Hepp. Die Frauen kämen mitunter täglich, mindestens jedoch einmal pro Woche zur Beratung.
Über vom Europäischen Sozialfonds geförderte Programme kann "Amalie" ihren Weg intensiv begleiten. "In den vergangenen zwei Jahren hatten wir 24 Frauen im Projekt", berichtet Fehrenbach. Neben ihr kümmern sich drei weitere Sozialarbeiterinnen um die Betroffenen. Doch das aktuell laufende EU-Programm "Horizonte plus" läuft Ende 2025 aus. Umso wichtiger sei es, jetzt die Beratungsarbeit und die dafür notwendigen Hilfen zu sichern, unterstreichen die Verantwortlichen. "Jede Frau, die wir mit diesem Projekt erreichen, ist eine Frau mehr, die sich aus der Spirale aus Armut, Abhängigkeit, Angst und Prostitution befreit", betonen sie.
"Amalie" wird finanziert von der Stadt Mannheim, vom Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration Baden-Württemberg und vom Diakonischen Werk Mannheim. Aktuell beteiligt sich die Stadt mit 67.000 Euro an der Beratung sowie mit 30.000 Euro an der seit 2016 angemieteten Aussteigerinnenwohnung mit drei Plätzen, die immer ausgebucht ist.
"Aus wirtschaftlicher Sicht müsste ich zu machen", stellt Graf nüchtern fest. Man habe es mit einer freiwilligen Leistung der Kommune zu tun. "Und auf freiwillige Gelder wird in Zeiten knapper Kassen immer geschaut", weiß er und ist dennoch zuversichtlich. "Zum einen ist das Bewusstsein bei Gemeinderat und Verwaltung vorhanden. Zum anderen sind wir dankbar über die vielen Spenden sowie zahlreiche Ehrenamtliche, die uns unterstützen", sagt der Diakonie-Leiter.
Das wiederum ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass "Amalie" neben dem Aufenthalts-, Beratungs- und Ausstiegsangebot eine konsequente Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit betreibt, um das Thema in der breiten Bevölkerung zu verankern und diese dafür zu sensibilisieren, dass es sich bei Zwangsprostitution um einen Verstoß gegen die Menschenwürde handelt.
Nach zehn Jahren ist die Arbeit von "Amalie" nicht nur in der Stadtgesellschaft anerkannt, sondern die Beratungsstelle ist Teil eines starken und breiten Netzwerks in Mannheim und darüber hinaus. Zugleich ist "Amalie" ein gefragter Ansprechpartner. "Bis nach Norddeutschland wird nach unserem Konzept beraten", sagt Fehrenbach.