Heribert Prantl nimmt die EU-Flüchtlingspolitik auseinander
"Unsere Enkel werden uns fragen: Was habt ihr damals getan?" - Der Journalist und Autor wirbt für einen radikalen Kurswechsel - Vortrag am 5. November in Heidelberg

"Bankrotterklärung für Europa": Heribert Prantl geht die Asylpolitik der Europäischen Union scharf an. Foto: privat
Von Sebastian Riemer
Seit über zwei Jahrzehnten schreibt Heribert Prantl über Flüchtlingspolitik. Im Mai hat der Innenpolitik-Chef der Süddeutschen Zeitung ein flammendes Plädoyer veröffentlicht: "Im Namen der Menschlichkeit - Rettet die Flüchtlinge." Prantl wirft der Europäischen Union moralisches Versagen vor und skizziert eine völlig neue Asylpolitik - mit Milliardenhilfen für die Flüchtlinge in Transitländern wie dem Libanon, der Schaffung sicherer Fluchtrouten und der freien Wahl des Aufenthaltslandes für Asylsuchende. Am 5. November eröffnet der 62-Jährige um 20 Uhr in der Neuen Aula der Universität die Reihe "Heidelberger Flüchtlingsgespräche" des Interkulturellen Zentrums. Karten für Prantls Vortrag zur Flüchtlingspolitik gibt es für 10 Euro (ermäßigt 8 Euro) bei allen bekannten Vorverkaufsstellen. Der Erlös kommt dem Asylarbeitskreis Heidelberg und Pro Asyl Deutschland zugute.
Sie haben Ihren Essay vor fünf Monaten veröffentlicht. Hat sich seitdem aus Ihrer Sicht etwas in der EU-Flüchtlingspolitik zum Guten verändert?
Nein, die Abschottung geht weiter. Dies ist eine Menschheitskatastrophe, bei der Europa seine Kräfte aktivieren muss. Wenn Europa die Werte der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Grundrechtecharta nichts mehr wert sind, ist Europa nichts mehr wert.
Die EU töte durch Unterlassen, schreiben Sie. Wie waren denn die Reaktionen auf Ihren Essay?
So gespalten wie die Stimmung aktuell. Dabei beschreibe ich ja lediglich Fakten über die Politik der Europäischen Union: Die Rettungsoperation "Mare Nostrum" wurde beendet, weil es als falscher Anreiz gesehen wurde, Flüchtlinge auf dem Mittelmeer zu retten. Das ist die Bankrotterklärung eines Europas, das nicht meines ist.
Wenn Europa jetzt richtig agiere, könne eine "neue europäische Gründerzeit" entstehen, so Ihre These. Klingt nach Kohls blühenden Landschaften.
Wenn wir etwas schaffen wollen, müssen wir das Gefühl erzeugen, dass etwas passiert. Wir reden viel zu viel im Katastrophenjargon. Die Menschen, die zu uns kommen, wollen ja etwas tun. Dieses Potenzial zu nutzen, ist eine große Chance. Europa hat so viel hinbekommen in seiner Geschichte, nun sollte es endlich diese Aufgabe annehmen.
Wie bewerten Sie die Asylpolitik von Bundeskanzlerin Merkel?
Ihre Politik ist gespalten. Sie sagt zwar, wir nehmen Menschen in Not auf. Aber dann legt die Bundesregierung ein neues Asylgesetz vor, das die flüchtlingsfeindliche Politik der letzten Jahrzehnte fortsetzt. Nach ihrem Spruch "Wir schaffen das" kam nichts mehr.
Ein reiches Land wie Deutschland müsse doch 400 000 Flüchtlinge aufnehmen können, schrieben Sie im Mai. Nun sind es mehr als doppelt so viele.
Die Grundaussage gilt. Wir stehen vor einer historischen Herausforderung, da können wir nicht sagen: Jetzt wird’s uns zu viel. Ich weiß nicht, was aus einem Europa werden soll, dass an seinen Grenzen Hunderttausende Menschen - auch Kinder - in Lagern dahinvegetieren lässt.
Wollen die Deutschen überhaupt eine humanere Asylpolitik, die zunächst ja auch viel Geld kosten würde?
Ich glaube, 25 Prozent sind energisch für eine neue, kluge, humane Asylpolitik. 25 Prozent gehören zur "Das Boot ist voll"-Fraktion. Und rund 50 Prozent sagen "Man muss etwas tun angesichts der schrecklichen Fernsehbilder aus Syrien, aber...". Die Größe dieses "aber" hängt davon ab, ob die Politik ein Konzept hat und gut zusammenarbeitet. Der tägliche Krieg zwischen Seehofer und Merkel hilft nicht.
Befürchten Sie eine ausländerfeindliche Stimmung wie Anfang der 90er-Jahre?
Ich hoffe nicht. Denn die flüchtlingsfreundliche Szene vor 25 Jahren war winzig, heute ist sie eine respektable Bürgerbewegung. Allerdings wirken die sozialen Netze heute wie Aufheizanlagen für Bösartigkeit. Was da an Gift und Galle gespuckt wird, ist zutiefst erschreckend.
Aber auch Phänomene wie Pegida radikalisieren sich immer weiter.
Da hat der Staat zu lange zugeschaut. Dass auf dem Hauptplatz vor der Semperoper in Dresden Hetzer ihre Sprüche ablassen können, erinnert an die letzten Jahre der Weimarer Republik. Da muss der Staat - bei aller Meinungsfreiheit - eingreifen, um Rechtsstaat und Demokratie zu schützen.
Sie schreiben: "Die Bibel ist ein Flüchtlingsbuch." Weiß der Vorsitzende der Christlich-Sozialen Union das?
Er will es momentan nicht zur Kenntnis nehmen. Seehofer denkt sich: "Die Stimmen der Katholiken habe ich sowieso, ich brauche aber die Stimmen von rechts, damit dort keine neue Partei entsteht."
Dabei gibt es diese Partei ja längst. Glauben Sie, die AfD kann sich dauerhaft etablieren?
Nur so lange, bis das Flüchtlingsthema politisch entschlossen angepackt wird. Wenn die CSU ähnlich agiert wie die AfD, hilft sie damit vor allem dieser Rechtsaußenpartei - und vergiftet sich selbst.
Sie schreiben seit über zwei Jahrzehnten über Asylpolitik. Glauben Sie noch an einen großen Wurf?
Ich bin optimistisch, weil ich sehe, was sich in der Zivilgesellschaft verändert hat. Da ist eine breite flüchtlingsfreundliche Bewegung entstanden, die nicht mehr nur aus einem eher linken Spektrum besteht. Wenn ich nicht optimistisch wäre, dann müsste ich aufhören zu schreiben. Das 21. Jahrhundert wird einmal daran gemessen werden, wie es mit dem Flüchtlingsproblem umgegangen ist. Unsere Enkel werden uns fragen: "Was habt ihr damals getan, als Millionen Menschen in Not waren und Hilfe brauchten?" - dann sollte die Antwort nicht lauten: "Wir sind bei Pegida mitgelaufen und haben AfD gewählt."