Workshop "Gerichtssaal der Zukunft": Kriminalistik in der dritten Dimension

Aufklärungsdrohnen, Laserscanner und radiologische Methoden sind schon heute im Einsatz

08.11.2015 UPDATE: 09.11.2015 06:00 Uhr 3 Minuten, 5 Sekunden

Nur in Hochleistungsrechenzentren wie hier im Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ist heutzutage schon eine virtuelle Tatortbegehung möglich. Mit einer 3D-Brille kann man sich frei durch den Raum bewegen und jedes Detail begutachten. Foto: dpa

Von Holger Buchwald

Eine Frau wurde erstochen, ihre Leiche liegt im Bett. Überall sind Blutspritzer - an der Wand und am Fenster. Richter, Staatsanwalt und Verteidiger schauen sich alles aus der Nähe an, wollen herausfinden, was genau passiert ist. Sie tragen 3D-Brillen. Denn natürlich befinden sie sich nicht wirklich mitten im Geschehen. Die Bilder vom Tatort sind in den Schwurgerichtssaal projiziert.

"Gerichtsaal der Zukunft" nennt sich der zweitägige Workshop im Kommunikationszentrum des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ). Entstanden ist die Idee aus einer Kooperation von DKFZ, dem Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Heidelberg und dem Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR).

Hintergrund

Die Kooperation des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin mit dem DKFZ und dem Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) ist einzigartig. Dadurch stehen den Rechtsmedizinern nicht nur herkömmliche Computer- und

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Die Kooperation des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin mit dem DKFZ und dem Interdisziplinären Zentrum für Wissenschaftliches Rechnen (IWR) ist einzigartig. Dadurch stehen den Rechtsmedizinern nicht nur herkömmliche Computer- und Magnetresonanztomografen zur Verfügung, sondern auch das noch viel höher auflösende Sieben-Tesla-Modell im DKFZ. Künftig können die Rechtsmediziner durch den Einsatz moderner bildgebender Verfahren wohl auf manche Autopsien verzichten. Schusskanäle können etwa virtuell nachgezeichnet werden, ohne den Schädel zu öffnen. Für die Rechtsmedizinerin stellen die neuen Technologien einen Riesenvorteil dar. Wenn beispielsweise zu einem späteren Zeitpunkt neue Fragen zu einem Fall auftauchen, kann man sich die digitalen Daten einfach noch einmal anschauen und diese ohne Qualitätsverlust nachbegutachten. Hinzu kommt aber auch, dass die Radiologie genutzt werden kann, um an Überlebenden Verletzungen zu dokumentieren. Dies geschieht in der Gewaltambulanz des Instituts für Rechtsmedizin. hob

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85 Teilnehmer sind gekommen - Kriminaltechniker, Verkehrspolizisten, Juristen, Rechtsmediziner, aber auch Wissenschaftler aus anderen Bereichen. Sie zeigen, dass der virtuelle und begehbare Tatort zwar theoretisch denkbar wäre, praktisch aber noch in weiter Ferne liegt. Trotzdem gibt es auch heute schon fantastische Möglichkeiten: Drohnen fliegen über Unfallorte und fertigen 3D-Aufnahmen, mit modernsten radiologischen Methoden kann man auch kleinste Verletzungen in der Hirnrinde dokumentieren.

Die Vermessungsingenieurin Ursula Buck vom Institut für Rechtsmedizin und der Kantonspolizei in Bern spielt das Video eines tödlichen Unfalls ab: Drei Skicrossfahrer rasen in halsbrecherischem Tempo den Berg hinunter. Für kurze Zeit verschwinden sie hinter einer Bodenwelle, dann tauchen sie wieder auf. Der Skifahrer am linken Bildrand fährt nach der Landung ungebremst in den Fangzaun, prallt mit seinem Kopf schließlich in einen vereisten Schneehügel.

Was geschah in der Zeit, in der die drei Skifahrer nicht zu sehen waren? Wurde der tödlich Verunglückte kurz vor dem Unfall vielleicht von einem seiner Kontrahenten abgedrängt? Oder war der Fangzaun falsch installiert? Diesen Fragen wollte Buck mit ihren Kollegen auf den Grund gehen. Mit modernster Vermessungstechnik fertigten sie hierfür ein 3D-Modell der Rennstrecke an und projizierten die bekannten Daten der drei Skifahrer aus der Videokamera hinein. Entstanden ist ein Film, bei dem der Betrachter per Mausklick immer wieder den Blickwinkel ändern kann. Von oben ist schließlich deutlich zu sehen, dass der linke Skifahrer nicht von den beiden anderen abgedrängt worden sein kann.

Fotogrammetrie, kleine Aufklärungsdrohnen, GPS-Tachymetrie und 3D-Laser- und Oberflächenscanner - all das kommt im Institut für Rechtsmedizin Bern und bei der dortigen Kantonspolizei schon heute zum Einsatz. Wie diese Methoden, die Radiologie und modernste Informationstechnologie ineinandergreifen, veranschaulicht Buck am Beispiel eines weiteren tödlichen Unfalls, bei dem ein Betrunkener liegend von einem Motorradfahrer überrollt worden war. Die radiologischen Bilder der tödlichen Schädelfraktur und das 3D-Modell der äußeren Verletzung offenbarten schließlich, was passiert ist. Sie passten exakt zu dem 3D-Modell des Motorradreifens und seiner Felge. Ein weiteres Indiz: Eine Quetschrisswunde am linken Unterarm des Opfers konnte nur von einem Fußpedal des Zweirads stammen. Letztendlich fanden die Kriminaltechniker sogar Knochensplitter in der Felge. Buck: "Wir haben alle diese Ergebnisse in 3D zusammengeführt und so zu Gericht gebracht."

"Structure from motion" nennt sich ein Verfahren, das auch heute schon an Tatorten Anwendung findet. Christian Seitz ist Experte auf diesem Gebiet. Der Doktorand am IWR ist eigentlich Archäologe und verdeutlicht am Beispiel eines Grabfundes, wie die Technik funktioniert. Mit einer normalen Spiegelreflexkamera hat er die Ausgrabungsstätte aus 27 unterschiedlichen Blickwinkeln abfotografiert und schließlich mithilfe einer Software als 3-D-Modell zusammengesetzt. So können Archäologen auch noch in ein paar Jahren ein genaues Bild davon machen, wie das Skelett im Grab gefunden worden ist. Und noch mehr: Virtuell können Sie sich aus ganz unterschiedlichsten Richtungen dem Fundort nähern und Details heranzoomen.

Viele weitere Techniken lernen die Workshopteilnehmer kennen. Sandra Petershans vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg zeigt unter anderem, wie sie mithilfe eines Handlaserscanners die Bruchstücke eines Stuhls wieder virtuell zusammensetzen kann. Dank der gefundenen DNA-Spuren von drei Männern kann sie so vor Gericht zeigen, welcher Teil des Stuhls von den beiden Tatverdächtigen und welcher vom Opfer berührt worden war.

Heinz-Peter Schlemmer, Chefradiologe am DKFZ, erklärt, welche Möglichkeiten moderne Computer- und Kernspintomografie für die Kriminalistik bieten. Er zeigt an einem Computerbildschirm den dreidimensionalen Datenwürfel eines Schädels. Die zahlreichen Frakturen im Bereich der Schädeldecke und des Unterkiefers sind deutlich zu erkennen und lassen Rückschlüsse auf die Gewalteinwirkung zu. Solche Aufnahmen stehen jederzeit und überall zur Verfügung. Schlemmer lässt sich sogar die Bilder aus dem DKFZ-Untersuchungsraum im Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) in Echtzeit auf sein Smartphone schicken.

"Die Radiologie war früher nur postmortal im Einsatz, wir nutzen sie aber immer häufiger, um an Überlebenden Spuren von Gewalt zu dokumentieren", sagt Kathrin Yen, Ärztliche Direktorin des Heidelberger Rechtsmedizinischen Instituts: "Und in Zukunft werden wir auch verstärkt 3D-Drucker nutzen, um die radiologischen Bilder begreifbar zu machen. So können die Richter anhand eines nachgebildeten Schädels genau sehen, an welcher Verletzung das Unfallopfer gestorben ist."

Noch ist vieles davon Zukunftsmusik. Die Möglichkeiten, einen virtuellen Tatort zu begehen, gibt es nur in Hochleistungsrechenzentren wie am Karlsruher Institut für Technologie. Die quietschenden Rollwagen, vollgepackt mit pastellfarbenen Akten und Fotokopien, haben an deutschen Gerichten also noch lange nicht ausgedient.

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