Metropolink-Festival in Heidelberg

Wie eine Ikone der 80er Jahre zerfließt

An der Ringstraße haben die Graffiti-Künstler das TV-Testbild verewigt - Am Samstag ist Vernissage

12.07.2017 UPDATE: 13.07.2017 06:00 Uhr 2 Minuten, 13 Sekunden

Das "Testbild" löst sich auf: Andreas von Chrzanowski ("Case") und Markus Genesius ("Wow123") haben eine rund 400 Quadratmeter große Fassade in der Ringstraße in ein Kunstwerk verwandelt. Foto: Philipp Rothe

Von Alexander R. Wenisch

Heidelberg. Sie sind Pioniere der deutschen Graffiti-Szene: Andreas von Chrzanowski, der sich "Case" nennt, und Markus Genesius (alias "Wow123"). Während viele Kollegen Ende der 80er und Anfang der 90er noch damit beschäftigt waren, ihre Schriftzüge auf Wänden und Zügen auszuformen und so den US-amerikanischen Vorbildern nacheiferten, suchten von Chrzanowski und Genesius ihren eigenen Stil. Sie brachten den Fotorealismus, also gesprayte Motive, die so "echt" wie ein Foto aussehen, in die Szene. Im Rahmen des aktuellen Urban Art-Festivals "Metropolink" haben die beiden an der Heidelberger Ringstraße zusammengearbeitet.

Entstanden ist ein beeindruckend großes Motiv, zwei Hände, die ein zerfließendes TV-Testbild umrahmen. Sie wollen diese bildliche Ikone der 80er Jahre festhalten, es gelingt aber nicht. Und so wird das Motiv zum Sinnbild unserer dauermedialen Ära, in der es schon längst keinen Sendeschluss mehr gibt und in der das klassische Fernsehen allmählich vom Streaming abgelöst wird.

Die Wand fällt Tausenden Pendlern ins Auge, die täglich stadtauswärts Richtung Montpellier-Brücke und Speyerer Straße fahren. 400 Quadratmeter pures Weiß haben "Wow 123" und "Case" in Kunst verwandelt. Die Wand gehört zu einem Neubau des Heidelberger Immobilienentwicklers "Kalkmann", der in den vergangenen Monaten hier entstand. Als Festivalmacher Pascal Baumgärtner sah, dass die komplette Fläche, weil auf der Grundstücksgrenze gebaut, ohne Fenster entsteht, griff er zum Handy: "Ihr baut mir da gerade eine ideale Leinwand für mein Festival." Henning Kalkmann, der ein Faible für Kunst hat, sagte zu. "Durch eine fantasievolle Darstellung versprechen wir uns für Nutzer, Mieter und auch die interessierte Öffentlichkeit eine positive Belebung."

Case und Wow123 sind in der Szene Hausnummern. Genesius hat schon über 100 Projekte in 29 Ländern realisiert. Neben seinen figurativen, fotorealistischen Motiven ist das Testbild mittlerweile sein Markenzeichen. Der 42-Jährige kommt aus der Graffiti-Szene, hat aber mittlerweile ein Studio in Bremen, dort, wo er vor über drei Jahrzehnten auch mit dem Sprayen begonnen hat.

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Die Heidelberger Wand ist nicht die erste Kooperation mit dem Frankfurter von Chrzanowski. 2013 haben die beiden im russischen Jekaterinburg ein 30 Meter hohes Hochhaus bemalt. "Das läuft alles sehr intuitiv", beschreibt Case die Zusammenarbeit. Keine Skizze, keinen Plan, nur eine kurze Absprache. Und dann wird nacheinander gesprayt; der eine nimmt die Elemente des anderen auf. "Wir sind sehr gut befreundet, sonst würde das nicht funktionieren", sagt von Chrzanowski, der in der Frankfurter "Freiluftgalerie" tolle Wände gestaltet hat.

Case, der ein wenig aussieht wie ein Billy Bob Thornton der Sprayer-Szene, mischt sich mit seiner Kunst gerne auch politisch ein. Kürzlich, erzählt der 38-Jährige, war er bei einem Festival in Churchill in Kanada. Hier ist eine ganze Dorfgemeinschaft von der Außenwelt abgeschnitten, weil die Eisenbahnstrecke dorthin unterspült wurde und weder Staat noch Einsenbahngesellschaft die Kosten für eine Reparatur zahlen wollen, berichtet Case. Den vielen Arbeitern in dem Städtchen, die in der Folge arbeitslos wurden, hat er nun mit einem Graffito ein Denkmal gesetzt.

Da mutet das Gemälde in Heidelberg im Vergleich eher harmlos an. Gleichwohl können Andreas von Chrzanowski und Markus Genesius von ihrer Kunst leben. Es sei ein glücklicher Zufall gewesen, dass sich die Szene verändert habe - "seit den 90ern haben Festivals Graffiti aus der Schmuddelecke geholt", sagt Case. Zu der Zeit arbeitete er noch als Kirchenrestaurator. Doch als er entdeckte, dass er "mit Graffiti-Kunst an einem Wochenende so viel verdienen konnte wie in der Kirche in einem Monat", setzte er alles auf eine Karte - die Unsicherheit unregelmäßiger Aufträge in Kauf nehmend. Der Mut und das Risiko haben sich offensichtlich ausgezahlt.

Info: Wanderöffnung an Ringstraße/ Total-Tankstelle: 15. Juli, 19 Uhr.

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