Von Marc Vorsatz
Dieser Mann hat offensichtlich Sexappeal. Junge Frauen haben sich extra herausgeputzt, bei ihm stehen sie Schlange. Ältere ebenso. Nur um ihn einmal in den Arm zu nehmen. Ihn zu küssen, sich an ihn zu schmiegen, seine Hand halten. Dabei erwarten sie nicht mal eine Erwiderung von Woschd, dem Führer.
Wie sollten sie auch? Schließlich hat ihr Idol bereits 1953 das Zeitliche gesegnet. Aber immerhin thront ja seine überlebensgroße Statue im Museum von Gori, seiner Geburtsstadt. Josef Wissarionowitsch Stalin, der bekannteste Sohn Georgiens, gilt Hunderttausenden, wenn nicht gar Millionen seiner Landsleute noch immer - oder wieder - als Volksheld. Ganz egal, wie viele Menschen der Diktator auf dem Gewissen haben mag.
57 Prozent der Georgier sehen seine historische Rolle als überwiegend positiv. Bei vielen sitzt die Enttäuschung über die korrupten Nachwende-Politiker tief. Da geht ein großer Riss durch die georgische Gesellschaft. Die Sehnsucht nach einem starken Führer, einem "Generalissimo", wie sie Stalin ehrfurchtsvoll nennen, scheint zuzunehmen.
Auch aus historischer Sicht nicht verwunderlich, drohte das kleine Land im Kaukasus, das gerade einmal so groß wie Bayern ist, doch immer wieder zwischen Russland, der Türkei und Persien aufgerieben zu werden. Spätestens seit dem verlorenen Kaukasuskrieg 2008 mit Russland schielen die Georgier entschlossener denn je nach Westen. Und hoffen auf mehr Touristen, die Geld unters Volk bringen sollen.
Denen bietet diese raue Schönheit am Rande Europas eine überraschende Vielfalt. Die pulsierende Hauptstadt Tiflis, smaragdgrüne tiefe Wälder und feuchte Sümpfe, die Kieselstrände des Schwarzen Meeres im Westen, die Weinprovinz Kachetien im Osten und natürlich die wilde Bergwelt des Kleinen und Großen Kaukasus mit schneebedeckten Fünftausendern, vergessenen Bergdörfern, abenteuerlichen Schluchten und geheimnisvollen Höhlen, historisch bedeutsamen Klöstern und Kirchen. Und überall Geschichte, gastfreundliche Menschen und eine schmackhafte traditionelle Landesküche.
Eine der eigenwilligsten Kirchen des Landes ist die Klosterkirche Mariä Himmelfahrt in der Höhlenstadt Wardsia, nur eine Autostunde von Gori entfernt. Ein eigenwilliger Bau an einem spektakulären Ort. Aus seinem galerieartigen, teils in den Fels geschlagenen Eingangsbereich schweift der Blick unter drei schweren Glocken - einem Gemälde gleich - hinaus in die grandiose Landschaft des Kleinen Kaukasus. Durch die Schlucht schlängelt sich friedlich der längste Fluss des Kaukasus, die Kura. Ihr braunes Wasser passt sich harmonisch in das Grün der Landschaft. Baden möchte man darin wohl eher nicht.
Erst mit ein paar hundert Metern Abstand kann man die Komplexität der Höhlenstadt samt Klosterkirche erahnen. Hunderte Höhlen ließen König Georgi II. und seine Tochter Tamar im zwölften Jahrhundert in die steil abfallende Wand des Erusheti-Berges schlagen. Weise vorausschauend, dass sie ihr Volk vor den aggressiven Türken werden schützen müssen. Zur Blütezeit sollen bei Gefahr bis zu 50.000 Georgier in über 2000 Räumen Zuflucht gefunden haben. Zu Friedenszeiten lebten lediglich 800 Mönche in der Höhlenstadt. Neben Wohnungen mit mehreren Räumen gab es Speisesäle, Weinkeller, Scheunen, Apotheken, Kirchen, eine Bibliothek, Ställe, Brunnen, Belüftungsschächte und geheime Fluchttunnel. Kaum vorstellbar, wie die Georgier vor über 800 Jahren mit einfachsten Werkzeugen den großen Innenraum des Mariä Himmelfahrt Gotteshauses aus dem Fels schlugen.
Nur durch den Verrat der Lage der Tunnel soll den Türken im Jahre 1552 der Überfall auf die Stadt gelungen sein. Die Invasoren mordeten, plünderten und zerstörten die einzigartige Höhlenstadt zu großen Teilen. Seitdem wurde Wardsia nie wieder von Menschen bewohnt. Zu Sowjetzeiten lag die Höhlenstadt an der Außengrenze des Riesenreiches und war Sperrzone. Nach der Unabhängigkeit begann Georgien mit der Erforschung und Restauration des Komplexes. Mehr als 500 Räume wurden inzwischen wieder instandgesetzt, die kunstvollen Fresken der Klosterkirche restauriert.
Nicht ganz so stark frequentiert wie die Höhlenstadt wird das Stalin-Museum von Gori. Soviel Ehre ist dem "Generalissimo" dann doch nicht zuteil geworden. Sicherlich auch, weil sich die Geister am Führer-Kult scheiden. Seit der Unabhängigkeit diskutieren Kritiker immer wieder eine Neuausrichtung des Museums. Neben Stalins Geburtshaus und der bestehenden Ausstellung sollten andere Ausstellungsräume hinzugefügt werden. Zeugnisse, die das Leid der Opfer dokumentieren: Vertreibungen, Hungersnöte, Scheinprozesse, Straf- und Arbeitslager (die berüchtigten Gulags), Hinrichtungen. Ein Museum im Museum sozusagen. So die Theorie. Geschehen ist indes nichts, es fehlt am politischen Willen der Verantwortlichen. Immerhin: 2010 wurde die monumentale Stalin-Statue vor dem Rathaus von Gori demontiert.
Der Stalin-Tempel wird hingegen weiterhin dem berühmt-berüchtigten Sohn des Landes alle Ehre erweisen. Und der Provinzstadt einen steten Fluss an Rubel, Lari und Euro bescheren. Indes träumt man von der Aufnahme in die Europäische Union.