Blick von der Diavolezzaterrasse zum 3901 Meter hohen Piz Palü. Foto: Rainer Hamberger
Von Rainer Hamberger
Es ist sehr kalt an der Diavolezza Talstation. Wetterfest in einen roten Ganzkörperanzug gekleidet steht Felix Keller neben der Eisstupa. Sie ist gewissermaßen sein Baby. Eiskristalle geistern durch eine Luft bei –20 Grad. Klares Licht aus dunkelblauem Winterhimmel beleuchtet die Szene. Im Hintergrund fährt gerade die Kabinenbahn nach oben bis auf knapp 3000 Meter Höhe. Skifahrer schwingen zu Tal. Wissenschaftler diskutieren in kleiner Gruppe, Kameraleute bringen sich in Stellung. Ein bedeutendes Ereignis steht wohl an. Doch zuvor wendet man den Blick gedanklich nach Indien ...
"Sei ein Teil der Lösung und nicht des Problems" sagt man in Ladakh. Der kleine Himalajastaat an der Grenze zu Kaschmir gehört seit 2019 als Unionsterritorium zu Indien. Seine Täler liegen auf einer Höhe von 3000 Metern, während die höchsten Gipfel knapp über 7000 Meter erreichen. Der für Indien typische Monsun wird von der Hauptkette des Himalajas weitgehend abgeschirmt. In dieser schwer zugänglichen Landschaft zwischen Pakistan, Kaschmir und Tibet hat man seit jeher mit Wasserknappheit zu kämpfen und arbeitet an Systemen, die wenigen Felder ausreichend zu bewässern. Schon vor langer Zeit wurde dort eine Lösung gefunden.
Während der sehr kalten Winter wird mithilfe eines Schlauchs Wasser aus nicht gefrierenden Flüssen genommen und in ein Fallrohr geleitet. Mit natürlichem Druck aus einer Fallleitung steigt das Wasser innerhalb der Stupa in einem Rohr senkrecht nach oben und wird versprüht. Die sogenannten Eisstupas können bis 40 Meter hohe Eiskegel bilden, die durch vertikales Einfrieren des versprühten Wassers auf einem Holzgeflecht entstehen. Mit einsetzender Erwärmung während der Wachstumsperiode wird dann das Schmelzwasser genutzt. Mittels wohldurchdachter Verteilung kann eine solche Stupa während sie langsam abschmilzt bis zu zehn Hektar Felder bewässern. Von Dürren bedrohte Regionen werden so zur landwirtschaftlich genutzten Zone.
Wissenschaftler aus der Schweiz nahmen mit Kollegen aus Ladakh Kontakt auf, um sich mit ihnen auszutauschen. Der führende Schweizer Glaziologe Dr. Felix Keller hat nun an der Talstation der Diavolezzabahn bei Pontresina im Oberengadin eine solche Eisstupa entstehen lassen. Dabei geht es nicht um Bewässerung von Feldern, sondern in einem Modellversuch wird aufgezeigt, wie es möglich ist, ohne Elektrizität Eiskristalle zu erzeugen. So werden strombetriebene Turbinen überflüssig.
Aufbau des Eisstupa an der Talstation Diavolezza. Foto: Mayk WendtIn aller Munde ist der Rückgang der Gletscher von Jahr zu Jahr. Das bekannteste Beispiel im Schweizer Kanton Graubünden ist der Morteratschgletscher. Es gibt viele Bestrebungen, die Schmelze hier zu verlangsamen.
Soll man Gletscher abdecken oder eher beschneien? Man entschied sich, das Eisstupa-Prinzip aus Ladakh anzuwenden und weiter zu entwickeln. So entstand zunächst eine Versuchsstation. Am 11. Februar wurde nun die neue Schneiseil- und Eis-Stupa-Testanlage an der Talstation der Diavolezza im Oberengadin erstmals in Betrieb genommen. Dieser Ort liegt nur wenige Kilometer vom Morteratschgletscher talaufwärts entfernt. Ein Schneiseil bringt oberirdisch im Schlauch herabströmendes Schmelzwasser von höher gelegenen Reservoirs zur gewünschten Stelle, wo es beim Austreten durch fünf Düsen versprüht wird. Der dabei entstehende Kunstschnee kann zur Beschneiung eines Gletschers verwendet werden. "Für mich ist heute ein historischer Moment. Die Schnei- und Eis-Stupa-Testanlage an der Talstation Diavolezza ist in Betrieb und läuft", sagt Glaziologe und Kopf des Projektes Felix Keller zufrieden.
Nun führt eine Forschungsgruppe der Hochschule Luzern während der laufenden Wintersaison regelmäßig verschiedene Tests durch. "Das Schneiseil ist so zum ersten Mal im Einsatz. Wir müssen beobachten, wie die Düsen sich verhalten, aus denen der Schnee gesprüht wird, oder ob der Schnee brauchbar ist. Und die größte Herausforderung: wie sich die Mechanik unter diesen Temperaturen verhält", sagt Glaziologe Felix Keller. Läuft alles nach Plan, könnte schon nächsten Winter eine Anlage über Permafrostboden installiert werden. Die Endversion soll schließlich ohne elektrische Energie laufen und wird mit einem höher liegenden See, der sich am Persgletscher bilden wird, verbunden. Herkömmliche Beschneiungsanlagen mit Lanzen können auf der Gletscheroberfläche aufgrund des sich bewegenden Untergrundes nicht eingesetzt werden. "Solange Schnee auf dem Eis liegt, ist es geschützt. Denn Schnee reflektiert die einfallende Sonneneinstrahlung und isoliert vor warmen Sommertemperaturen", erklärt Felix Keller.
Felix Keller und Gäste von der Universität Ladakh in Indien vor Eisstupas. Foto: Mayk WendtDie Schneiseil- und Eis -Stupa-Testanlage dient zusammen mit dem neu eröffneten Besucherzentrum an der Talstation der Diavolezza als Information und zur Sensibilisierung für die Folgen der Klimaerwärmung. Abgesehen von physikalischen und klimarelevanten Abläufen lenkt die neue Anlage das öffentliche Interesse auf dieses sensible Thema.
Anreisende Besucher sind von dem exotisch anmutenden Eiskonstrukt fasziniert, und Schulklassen aus den umliegenden Orten können hier vor Ort am praktischen Beispiel Einsichten gewinnen und vertiefen. Abgesehen von wissenschaftlichen Versuchen ist es einfach spannend, um die Eisstupa herumzulaufen. Anschließend geht es mit der Kabinenbahn hinauf bis auf knapp 3000 Meter Höhe.

Langsam kehrt Ruhe ein in der Gipfelstation. Gerade startet die Kabinen-Bahn zur letzten Talfahrt. Nur eine Handvoll Gäste bleiben zurück. Sie werden in circa 2972 Meter Höhe übernachten, in einem der höchst gelegenen Hotels Europas. Umgeben von Gipfeln der Bernina Gruppe ist hier oben einer der besten Aussichtspunkte auf Piz Bernina, Piz Palü und mehrere Gletscher. "Wollt ihr noch in unser Outdoor-Jacuzzi?" Luigi, zuständig für den Betrieb im Restaurant wendet sich an zwei Fotografen, die gerade noch vor dem Hotel unterwegs waren, das besondere Licht der blauen Stunde einzufangen. Was für eine verrückte Idee, mitten zwischen den Eisriesen in einem Trog mit heißem Wasser zu sitzen.
Natürlich, warum nicht? Eine Stunde später genießen sie im sprudelnden Bad das Farbenspiel der hinter den Gipfeln verschwindenden Sonne, welches die Bergsilhouette in magisches Licht taucht. Zur Abkühlung zwischendurch genügt eine Schneemassage. Im Hotel wird nach dem Abendessen in einem der gemütlichen Zimmer mit Gletscherblick übernachtet.
Aber zunächst gibt es nur ein Gesprächsthema: wie die uralte Technik aus Ladakh mit den hiesigen Möglichkeiten so optimiert werden kann, dass sie dem Bergvolk dort eine effektivere Bewässerung seiner Felder ermöglicht. Dafür sorgt eine ständige Kooperation zwischen Dr. Felix Keller, der Schweizer Universität Friburg und der Universität Ladakh. Doch dann zieht es die Gäste nochmals ins Freie. Solch einen Sternenhimmel gibt es nur weitab von jeglicher Lichtverschmutzung. Ähnliches könnten sie wahrscheinlich auch in der Region am Himalaja erleben.