So charismatisch der jakutische Künstler Dimitri Artjomow singt und tanzt, ist er kaum von echten Schamanen zu unterscheiden. Oft begleitet er Schiffsreisen durch seine sibirische Heimat. Fotos: Carsten Heinke
Von Carsten Heinke
Die Abendsonne lässt die Lena silbern schimmern. Sie selbst ist nur noch ein oranger Punkt am Himmel von Sibirien. Je weiter sich ihr letztes Glühen dem breiten Flusse nähert, umso mehr scheint es die lila-grauen Wolken mit hinabzuziehen.
Am Ufer, wo das Flussschiff Michail Swetlow vor Anker liegt, zünden Matrosen ein Lagerfeuer an. Dmitri Artjomow, ein großer Mann mit langer Lederfransenjacke, hebt beschwörerisch die Arme. Von seiner Mütze aus Polarfuchsfell hängt ein Schwanz aus hellem Rosshaar. Weiße Tiere, ganz besonders Pferde, sind den schamanischen Jakuten heilig. In seiner Muttersprache wendet sich der Einheimische an die Geister. Er klingt, als würde er bei jedem Wort etwas verschlucken – fremd und faszinierend schön. Dmitri selbst ist Künstler, kein Schamane – auch wenn ihn viele dafür halten. Der feierliche Sprechgesang, der seinen rituellen Gesten folgt, gehört zum Nationalepos Olonchó, um das sich die komplette Volkskultur Jakutiens (jakutisch: Sacha) dreht.
Die größte autonome Republik der Russischen Föderation breitet sich weit über deren Nordosten aus. Ihre Fläche ist neunmal so groß wie Deutschland, ihre Bevölkerung jedoch ums Neunzigfache kleiner. Maßgeblich geprägt wird dieses menschenleere Riesenland von "Mütterchen Lena" und deren Nebenflüssen.
Der nach dem Amur mit 4.400 Kilometern zweitlängste Strom Russlands entspringt unweit vom Baikalsee. Seinen heute bekanntesten Namen verdankt er den Kosaken, die Anfang des 17. Jahrhunderts auch den Fernen Osten Sibiriens ins Zarenreich holten. Ihren "Großen Fluss" nannten die ewenkischen Ureinwohner "Uly Yene", die jakutischen "Ölüöne". "Die Russen machten ihn zur Lena", sagt Irina Struck, die Reiseleiterin aus Moskau. Selbst hat die frohgelaunte Germanistin eine sowjetische und deutsche Vergangenheit. Seit sie für den Berliner Reiseveranstalter Lernidee arbeitet, ist sie gleichfalls auf den großen Strömen von Sibirien zu Hause.
Wie jede Reise auf der Lena beginnt auch diese in Jakutsk. Die Hauptstadt der Republik Sacha liegt etwa 6,5 Flugstunden von Moskau entfernt. Mit rund 300.000 Einwohnern – einem Drittel der Gesamtbevölkerung des Landes – ist sie dessen einzige Metropole. Ihre Nähe zum Nordpol macht sie zur kältesten Großstadt der Welt. Wintertemperaturen bis zu 60 Minusgraden und darunter sind keine Seltenheit. Schulfrei gibt es "schon" ab minus 45 Grad.
Die MS Michail Swetlow vor den malerischen Lena-Säulen südlich von Jakutsk.Geprägt von modernen Zweckbauten, die wegen des Permafrostbodens meist auf Stelzen stehen, beschränkt sich Jakutsks Bestand an interessanten älteren Gebäuden auf ein paar Kirchen und Bauten aus der Sowjetzeit. Ein Komplex aus rekonstruierten historischen Holzhäusern inklusive Festungsturm Ostrog, Palisadenzäunen und holzgepflasterten Straßen soll an die frühere Altstadt erinnern.
Spektakulär ist das Mammutmuseum mit sensationellen Funden wie einem komplett erhaltenen Mammutbaby und vollständigen Skeletten. Sehenswert sind ebenso das Ethnologische sowie das Maultrommelmuseum und das "Reich des ewigen Frostes".
Dieses unterirdische, ehemalige Lebensmittellager am Rand der Stadt wurden zu einer Dauerausstellung für Eisskulpturen umfunktioniert. "Wer in Sacha einen Keller hat, braucht keine elektrische Kühltruhe", kommentiert Irina den sommerlichen Rundgang durch die minus fünf Grad kalten Räume. Ganz gleich, ob Rentierfleisch, Fisch oder Gemüse: Die ganzjährige Bodenkälte ist für alle Vorräte recht praktisch. Im späteren Verlauf der Reise wird man das hin und wieder sehen.
In ihrer ursprünglichen Heimat Sibirien werden Bisons wieder erfolgreich angesiedelt.Doch erst einmal geht es um große Landschaftsbilder. Die zu zeigen, bringt die 1985 in Österreich gebaute MS Michail Swetlow ihre 100 Passagiere auf der Lena zunächst in Richtung Süden. Umringt von dichter Taiga, wachsen auf der linken Uferseite Sand- und Kalksteinfelsen bis zu 150 Meter in die Höhe und formieren sich immer mehr zu atemberaubender Naturarchitektur. Manche ähneln Kathedralen oder Burgen mit Türmen, Kuppeln oder Zinnen. Andere – verblüffend gleich in Größe und Gestalt – reihen sich zu fast symmetrischen Arkaden. Auch von ihren Gipfeln ist die Aussicht genial. Alles ist gewaltig groß, unendlich weit und traumhaft schön. Der Weg nach oben führt durch einen Wald aus Tannen, Zedern, Lärchen wie auch Birken mit strahlend weißen Stämmen. Neugierige Vögel begleiten im Geäst die Wanderer. Possierliche Streifenhörnchen (Burunduks) tauchen plötzlich aus dem grünen Nichts vor einem auf, um sofort wieder ins Gebüsch zu huschen.

Gleich hinter dem rund 80 Kilometer langen Nationalpark "Lena-Säulen" wartet eine ganze Herde großer Tiere auf die Flusskreuzfahrer. Es sind die Bisons von Ust-Buotama. Bis vor rund 5.000 Jahren waren diese Büffel in Sibirien zu Hause. "Über die Beringstraße bevölkerten sie einst von hier aus Nordamerika", erklärt Studentin Kjun, die an diesem Tag die Gäste durch das Reservat begleitet. Per Rückimport aus Kanada sowie durch Nachzucht sorgt man nun hier dafür, dass es in Sacha bald wieder eine stabile Bison-Population gibt. "Die ersten Gruppen wurden schon erfolgreich ausgewildert", berichtet die angehende Biologin. Zu sehen sind bei dieser Reise keine wilden Tiere mehr. Immerhin verleihen frische Bärenspuren einem Schwimm- und Angelstopp den Hauch von Abenteuer. Die Szenerien, die in den nächsten Tagen bis zum Mündungsdelta am Polarmeer folgen, übertrumpfen sich von Mal zu Mal. Auch die Exkursionen in Städte wie Schigansk, Kjusjur und Tiksi sorgen für überwältigende Momente. Stets sind alle von der spontanen Offenheit und Herzlichkeit der Menschen tief berührt.
Vom Lenaufer her schickt eine Maultrommel ihre federnd-schwingenden Töne über die abendliche Wiese. Wie zappelige Feldheuschrecken hopsen sie durchs hohe Gras und mischen sich mit den bauchigen bis pfeifenden Stimmen des Kehlgesangs der Jakuten. Für sie ist jeder Sommertag ein Grund zum Fröhlichsein und Feiern.