Von Ekkehart Eichler
Ein bisschen Glück gehört dazu. Vor einer Stunde noch hatten finstere Wolken die Panoramafenster des Zuges und die Laune der Passagiere verdüstert. Vor dreißig Minuten erste fette Tropfen sogar den Notkauf einer Regenpelle beschleunigt, bevor der Bus die letzten 400 Höhenmeter-Serpentinen emporkroch bis in die nassen Wolken. Und nun? Kaum steht der weit gereiste Gast gleich zu Beginn vor der berühmtesten aller peruanischen Postkartenansichten, bohrt sich wie der Finger Gottes ein zarter Sonnenstrahl durchs zähe Gewölk. Verschwindet und kommt wieder. Verweilt jetzt etwas länger und erleuchtet das heilige Grün inmitten der Ruinen auf geradezu überirdische Weise.
Ein fantastischer Moment. Was für ein Ort! Was für eine Magie! Der Traum aus Kindheitstagen, gespeist aus Büchern voller Mythen um die sagenhaften Söhne der Sonne und das riesige Reich der Inka, in dem immer auch diese geheimnisvolle Stadt im Urwald eine Rolle spielte; dieser Traum - hier und heute wird er endlich wahr. Und mehr noch: Schon mit diesem Premium-Premieren-Panorama hat Machu Picchu jegliche Erwartung übertroffen; alles andere in den nächsten drei Stunden wird als Zugabe ganz entspannt goutiert.
Die Reiseleiter kennen das Phänomen und lassen ihren Gästen ausreichend Muße: Denn es braucht schon einige Minuten, bis die Tränen der Ergriffenheit getrocknet und dem unstillbaren Drang gewichen sind, diesen Moment für die familiäre und sozialmediale Ewigkeit festzuhalten: mit und ohne Lamas. Mit und ohne Touristen. Und vor allem natürlich mit und auf keinen Fall ohne sich selbst. Wobei man höllisch aufpassen muss - immer wieder verunfallen hier durchdrehende Selfie-Freaks in ihrem Wahn nach dem extraordinären Ego-Schuss.
Verstehen kann man sie schon. Es gibt kaum einen vergleichbaren Platz auf der Erde. Hier gehen Bergwelt und Menschenwerk eine so unfassbar grandiose Symbiose ein. Inmitten dunkelgrüner Dreitausender und eingehüllt in Wolken und Nebel übt das Ensemble aus über 200 Steinhäusern, 300 Ackerbau-Terrassen, 3000 Treppenstufen, unzähligen glatten Granitblöcken und raffiniertem Bewässerungs- wie Drainagesystem eine Faszination aus, der sich kaum ein Besucher entziehen kann. Das brachte Machu Picchu 1983 den seltenen Doppel-Status als Weltkultur- und Weltnaturerbe ein; und auch in die VIP-Lounge der sieben Neuzeit-Weltwunder hat es die Urwaldkönigin problemlos geschafft.
Was alle Welt an diesem Ort so begeistert, ist zum einen die überwältigende Lage in 2350 Meter Höhe auf einem schmalen Felsgrat über dem Rio Urubamba und mit dem Huayna Picchu im Hintergrund, der wie eine Mischung aus Zuckerhut und Urzeitkreatur über allem wacht. Zum Mythos gehören aber auch die vielen Rätsel um ihre Existenz. Wer hat sie erbaut - ohne Eisenwerkzeuge und Räder? Zu welchem Zweck? Und warum gerade hier? War Machu Picchu die Stadt eines gottgleichen Inka-Königs? War es ein astronomisches oder ein religiös-zeremonielles Zentrum für die Sonnenjungfrauen? War es eine Festung oder ein Versteck im Dschungel? Wann und warum wurde die Stadt verlassen? Und wieso hatten die Spanier keinen Schimmer von ihrer Existenz?
Fragen über Fragen, Theorien über Theorien. Wie man weiß, verehrten die Inka Berge, Flüsse und Sonne als Gottheiten, denen sie nahe sein, von deren Kraft sie profitieren wollten. Hier fanden sie alles: die Nähe zum heiligen Urubamba, der die Stadt wie eine Insel umfließt. Die freie Sicht auf die heiligen Gipfel der Anden. Und nicht zuletzt einen Platz genau im Schnitt- und Mittelpunkt von vier göttlichen Bergen, die akkurat die vier Himmelsrichtungen markieren. Mehr geht beim besten Willen nicht - Machu Picchu muss für die Inka unwiderstehlich gewesen sein.
Erbaut wurde es ab etwa 1440 - zur Blütezeit der Inka-Kultur und des Inka-Reiches - als Landsitz von Pachacútec Inca Yupanqui. Der "Gott, der die Welt verändert" gilt als bedeutendster Inka-Herrscher und eine Art andiner Alexander der Große. Er eroberte weite Teile der Region und schmiedete das größte präkolumbische Imperium aller Zeiten. Er widmete sich höchst erfolgreich Städtebau und Infrastruktur, Architektur und Terrassenwirtschaft, Rechtssystem und Verwaltung. Er starb 1471, und spätestens zwei Generationen danach soll der Exodus aus "der Stadt in den Wolken" begonnen haben. Das wiederum könnte erklären, warum Machu Picchu den Spaniern verborgen blieb: Die Inka selbst hatten die verlassene Stadt zur Zeit der Eroberung längst vergessen.
Fast 400 Jahre hielt der Dornröschenschlaf an. Dann, am 24. Juli 1911, bahnte sich der amerikanische Archäologe und Historiker Hiram Bingham nebst einheimischem Führer als Erster den Weg zum Gipfel. Dort fand er die vom Dschungel überwucherten Ruinen. War dies das lang gesuchte Vilcabamba, wohin die Inka ihren Goldschatz vor den eindringenden Spaniern in Sicherheit gebracht hatten? Eher nicht, denn gefunden wurde kein einziger goldener Gegenstand.
Sicher hingegen ist: Die Stadt wurde bis ins kleinste Detail geplant und spiegelt in ihrer Anlage die hierarchische Struktur der Gesellschaft wider. Die Häuser der Adligen mit Palast und Tempeln auf der einen, die Viertel der Gelehrten und Handwerker auf der anderen Seite. Und unterhalb die Terrassen der Bauern mit Vorratshäusern und Ställen. Das Baumaterial kam aus Steinbrüchen auf dem Gelände und wurde speziell für Palast und Tempel mit unglaublicher handwerklicher Präzision bearbeitet und millimetergenau eingepasst - die Baukunst der Inka mit ihrem fugenlosen Mauerwerk gilt bis heute als unübertroffen.
Doch nach wie vor bleibt vieles in und um Machu Picchu blanke Spekulation und blühende Fantasie. Auch mangels Aufzeichnung und Überlieferung - die Inka codierten zwar wichtige Nachrichten, Statistiken und Buchhaltung mit ihrer Knotenschrift, den Quipus, eine Schriftsprache aber kannten sie ebenso wenig wie Geld. Vermutlich also werden niemals alle Geheimnisse von Machu Picchu entschlüsselt werden. Dem Hype um die großartige Urwaldstadt tut das garantiert keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil!