Atmosphärisch: Yadegar Asisis Panoramabild
„Die Mauer“ (Ausschnitt) macht einen fiktiven Herbsttag in Kreuzberg der 80er erlebbar.
Foto: Tom Schulze
Von Alexander R. Wenisch
Ja gut, Großstadt mit Kindern ist eine Herausforderung. Berlin erst recht. Wir wurden gewarnt. Und haben es trotzdem gewagt. Weil wir die Stadt mögen. Und weil wir - okay, also ich - das Jubiläum zum Mauerfall als Gelegenheit nutzen wollten, dem Nachwuchs etwas über deutsch-deutsche Geschichte vor Ort nahezubringen. Doch das ist, wie sich herausstellen soll, doch schwieriger als gedacht.
Erste Station: Es geht los am Brandenburger Tor. Der Pariser Platz ist voll mit Touristen. Klar, wir sind auch welche. Aber zwischen Selfie-Sticks und Victory-Zeichen macht Sightseeing wenig Freude. Hier ist das Epizentrum des Berlin-Tourismus. Das abgekapselte Tor war früher jedenfalls Symbol für die geteilte Stadt. Heute muss man vor allem aufpassen, dass man seine Kinder nicht zwischen den Menschenmengen verliert oder sie alternativ von Radfahrern angefahren werden. Was steht man da auch einfach so rum auf diesem Platz und will sich das Tor anschauen? Unerhört! "Das Tor ist aber klein", kommentiert der ältere unserer Jungs. Und tatsächlich: Gemessen an den vielen, wesentlich größeren Gebäuden in der Nachbarschaft - US-Botschaft, französische Botschaft, Adlon, Reichstagsgebäude -, aber erst recht gemessen an der Strahlkraft wirkt das alte Stadttor fast mickrig.
Zweite Station: Eine in den Asphalt eingelassene Linie aus Kopfsteinpflaster. "Hier verlief also die Mauer", erkläre ich. "Und wo wir jetzt gerade stehen, durfte man früher nicht hin." Die Jungs schauen sich um. Auch zwischen Holocaust-Mahnmal und Tiergarten drängen sich die Besucher, Busse spucken Ladungen von Schaulustigen aus, die Autos des Stadtverkehrs dröhnen vorbei. Die Unwirklichkeit der Berliner Teilung wird hier heute noch unwirklicher. Wie das früher mal aussah: Die wenigen verblichenen Fotos, die das ehemalige Niemandsland hier zeigen, machen die Konfrontation mitten in einer Weltstadt kaum nachvollziehbar. Man kann die alten Bilder natürlich "live" vor Ort googeln, aber greifbar wird Geschichte so nicht.
Dritte Station: Ein paar Schritte weiter der Potsdamer Platz. Auch hier manifestierte sich vor Jahrzehnten die Teilung. Und heute pulsiert das Leben. Das ist toll. Hochhäuser glitzern, vor dem Ritz stehen livrierte Pagen. Es eilen Passanten zur U-Bahnstation. Im imposanten, aber auch schon in die Jahre gekommenen Sony-Center gibt es überteuerte Pizzen zu klimperndem Klavier. Die Jungs beginnen, zwischen den Cafés Verstecken zu spielen. Das Stresslevel der Eltern steigt, als der Kleine für zehn Minuten - gefühlt eine Stunde - verschwunden ist ... und dann vergnügt angehüpft kommt, weil er es geschafft hat, nicht gefunden zu werden. Danach ist die Lust auf noch mehr Touristenmassen komplett verflogen. Eigentlich wollten wir noch die Mauer-Gedenkstätte in der Bernauer Straße anschauen. Das wird nun gestrichen. Stattdessen Limo für alle, um die Stimmung zu heben.
Vierte Station: Nächster Tag, neuer Schwung. Gestärkt von einem ausgiebigen Frühstück im überraschend kinderfreundlichen und zentral gelegenen Mövenpick-Hotel, geht es zur East Side Gallery. Wo, wenn nicht hier, muss Geschichte nachvollziehbar werden? Aber die bemalten, besprühten und mit allerlei Sinnsprüchen versehenen Mauerteile sind für die Kinder genau zwei Minuten spannend. Schnell machen die beiden deutlich: Eigentlich ist es ihnen zu heiß! Tatsächlich brennt die Sonne. Tipp: Die Galerie abends besuchen, dann werfen die Mauerteile Schatten. Wir sind aber vormittags da. Ohne Eis-Bestechung geht also nichts. Und dann sind da noch die Hütchenspieler, die auf der einen Seite des Gehsteigs jede Menge Wirbel machen ("Papa, da kann man 50 Euro gewinnen!" - "Wir spielen trotzdem nicht mit, komm jetzt weiter!"). Auf der einen Seite brettert der Verkehr lautstark und stinkig vorbei. Wir schaffen die 1,3 Kilometer gemeinsam und - jeder, der Kinder hat, weiß was das heißt - ohne wechselseitige Ausraster! Extremsituationen schweißen zusammen.
Fünfte Station: Putzig, die kleine Baracke am Checkpoint Charlie. Zwei Uniformierte davor. Machen Faxen mit übergewichtigen US-Touristen. Ich erzähle von einer Grenze, die hier mitten zwischen den Häusern verlief. Von Kontrollen, wenn man rüber wollte. Von Schikanen. Ich erzähle von einem US-Präsidenten, der hier eine wichtige Rede gehalten hat. "Das war Donald Trump?", fragt der Sohn. Nein, das ist der, der gerade wieder anfängt Mauern zu bauen. Okay, allmählich sickert das Gesehene und Erzählte der letzten Tage bei den Kindern ein. Bei einer Currywurst erzählen wir von Familien, die durch die Grenze getrennt wurden. Von scharfen Kontrollen, wenn man vom Westen in den Osten wollte. Von einem Land, in dem man nicht lernen durfte, was man wollte, nicht sagen durfte, was einen störte. Und aus dem man eben nicht einfach weggehen konnte, wenn es einem da nicht gefiel.
Sechste Station: Neben Checkpoint Charlie steht ein imposanter Rundbau: Yadegar Asisis Panoramabild "Die Mauer". Zu sehen ist ein fiktiver Herbsttag in den 1980er Jahren. Das alternative Leben in SO 36 in West-Berlin mit seinen Punks, besetzten Häusern, einer Wagenburg oder einem Streichelzoo in Kreuzberg ist völlig getrennt vom Leben in Ost-Berlin - und dennoch nur einen Steinwurf entfernt. Mit Original-Mitschnitten vertont ("Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten") beamt dich Asisi zurück in die geteilte Berlin. Oder macht für unsere Kinder den Alltag mit der Berliner Mauer zum ersten Mal wirklich greifbar. Das riesige Bild ist so atmosphärisch und gleichzeitig detailreich, dass es an jeder Ecke etwas zu entdecken gibt. Und zum Schluss wollen sich die Jungs "an der Mauer" fotografieren lassen. Als wären sie tatsächlich dort gewesen.
Nachtrag: Etwa zwei Wochen nach unserem Berlin-Trip ist unser Sechsjähriger nachdenklich. "Das wäre doch jetzt wirklich doof, wenn mitten durch unseren Garten eine Mauer gebaut würde." Dann könne er mit den Nachbarskindern gar nicht mehr spielen. Okay, etwas scheint hängen geblieben zu sein.