Von Alexander R. Wenisch
Schon das touristische Ortsschild an der Autobahn setzt ein Zeichen: Leipzig ’89. Noch bevor man die City erreicht wird klar: Hier ist keine normale Stadt, auch wenn das lang gezogene Industriegebiet aussieht wie überall. Hier ist ein Ort der Geschichte! Das Zentrum der Friedlichen Revolution.
Man weiß das natürlich. Aber in Leipzig trifft man gefühlt an jeder Ecke auf Wegmarken, auf Menschen, die ihre 89er-Geschichte erzählen, sobald du euch nur ein etwas politisches Interesse zeigst. So wie Sabine. Wir haben uns verabredet. Denn Sabine war Oppositionelle, sie war dabei, als die Bürger ihrer Stadt aufgestanden sind.
Sabine redet frei von der Leber weg, eine kernige Frau Ende 50. Aber sie kann mit ihren Erzählungen nachvollziehbar machen, in welcher Situation sich die Stadt, die ganze DDR damals befand. Ende der 80er. "Schon seit Jahren hat es rumort", sagt sie. Auch bei ihr. Als Aufrührerin sei sie unter Beobachtung der Staatssicherheit gestanden, erzählt sie. Als Staatsfeindin habe sie gegolten, ein Studium wurde ihr verweigert.
Was ist mit Flucht? Mitte Juli gab es erste Berichte über 30 DDR-Bürger, die sich in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest aufhalten um ihre Ausreise zu erzwingen. Zu gehen, sei für sie nie in Frage gekommen. Wegen der Familie, den Freunden in Leipzig.
Dann erzählt Sabine von ihrem Alltag damals. Von ihrer Arbeit in einer Klinik. Statt sich um ihre Patienten zu kümmern, musste sie sich zum Dienstbeginn sozialistische Parolen anhören. Sie habe es gehasst. Dann die Gleichmacherei in der Gesellschaft. Die ständigen Schikanen der Stasi. Gleichzeitig das Gefühl, dass die Planwirtschaft der DDR am Ende ist und der überall sichtbare Verfall der Stadt. Sabine zeigt schwarz-weiße Fotos von alten, heruntergewohnten Häusern. "Ruinen schaffen ohne Waffen" sei das Motto gewesen, lacht sie bitter.
Kein Vergleich zu den schmucken Altstadt-Palais, die heute den Marktplatz Leipzigs dominieren. Der alte Glanz der Messestadt. Ein paar Schritte weiter wurde die Uni auf dem Gelände eines Klosters gebaut. Ein moderner Bau, mutig-gewagt, aber mit Sinn für die Geschichte. Soli-Milliarden sind die Pleiße und die Weiße Elster - die beiden Flüsse, die Leipzig zu einem spannenden Biotop machen - hinaufgeflossen. Weshalb man hier heute die "blühenden Landschaften" sieht, von denen Helmut Kohl sprach, an die er selbst aber gar nicht glaubte. 1990 war das auf dem großen Platz zwischen Oper und Uni.
Wir biegen ab in Richtung Nikolai-Kirche, die sich in die Altstadt duckt. Kulminationspunkt der Unzufriedenheit. In den friedensbewegten 80ern begannen die Montagsgebete. Immer mehr wurde die Kirche Zufluchtsort für all jene, die auch mal frei von der Leber weg ihren Frust rauslassen wollten. Wahrscheinlich der einzige angstfreie Raum der Stadt.
Keimzelle aber waren kleine Kommunen wie die "Marianne 46". Schon seit Sommer 1988 werden von einem Altbau im Stadtteil Neustadt Demos organisiert. Nun ist es September ’89. Eine Gruppe von Mitt-Zwanzigern redet hier offen über ihre Aktionen gegen die Herrschaft der alten SED-Männer. Über eine Umweltdemo entlang der verschmutzten Pleiße, eine Protestaktion gegen die Pressezensur, ein verbotenes Straßenmusikfestival. Und sie lassen sich dabei heimlich filmen - wenige Tage später wird das Video im Westfernsehen gezeigt. Millionen schauen zu ... auch im Osten.
Die Mariannenstraße 46 war eine Wiege des Widerstands. Heute ist das Haus ein schmuck sanierter Altbau. Zu gern möchte man wissen, wer hier jetzt lebt. Es öffnet aber niemand. Der Stadtteil Neustadt indes ist jung und multikulturell; zwar nicht so kunstaffin wie der angesagte Hippster-Stadtteil Connewitz, aber spannend lebendig. Mit vielen Cafés, Imbissen, Spätis an der Ecke und noch vereinzelt leer stehenden Häusern erinnert Neustadt an ein kleines Berlin-Kreuzberg.
In den Jahren 88/89 werden die Aktivisten der "Marianne" auch Teil der Nikolai-Treffen. "Wir haben gemerkt, dass sich die Stimmung verändert", erinnert sich Sabine. Zu den Treffen montags ab 17 Uhr kommen immer mehr Leute. Und sie bleiben nicht mehr nur in der Kirche, sie gehen mit Kerzen hinaus. Am 6. und 7. Oktober feiert die DDR noch ihr 40-jähriges Bestehen. Am 9. Oktober aber treffen sich schätzungsweise 70.000 Menschen in Leipzig, markieren mit ihren Rufen nach Veränderung den Anfang vom Ende der DDR: "Wir sind das Volk!" und "Keine Gewalt!" Ein Signal nach innen, sich bloß nicht provozieren zu lassen. Aber auch in Richtung SED und Stasi.
"Es stand Spitz auf Knopf", sagt Sabine. Angst? Ja. Angst vor der eigenen Courage hatte sie schon, sagt Sabine. Die Krankenhäuser seien mit Notfallplänen auf viele Verletzte vorbereitet gewesen. Doch es fällt kein Schuss - ein Wunder. Denn die Stasi war hochgerüstet, erzählt Historiker Daniel Weißbrodt. Die Opposition sollte eigentlich binnen Stunden einkassiert werden. Aber es waren zu viele, die da draußen auf dem Altstadtring. Und die Parteiführung in Berlin unterschätzte die Lage.
Mit ihren Kerzen zogen die Bürger an der "Runden Ecke" vorbei, die Stasi-Bezirksverwaltung. "Wenn man früher hier vorbei ging, verstummten alle Gespräche", erzählt Sabine. Doch in diesem Herbst ’89 werden die Bürger immer lauter. "Als wir hier vorbei waren, da habe ich zum ersten Mal gedacht, es könnte etwas werden mit unserem Aufstand", erinnert sich Sabine. Am Jahresende wird das Stasi-Haus besetzt.
Seither ist die "Runde Ecke" ein Museum, in dem die perfiden Stasi-Methoden dokumentiert sind: Wanzen, gefälschte Stempel, Kennzeichen und Pässe, Geräte zum Öffnen von Post, eine Maskierungswerkstatt und Geruchskonserven. Ein zentraler Ort der Erinnerung an den Unrechtsstaat. Aber auch Symbol, dass friedliche Veränderung möglich ist. In wenigen Wochen erarbeitete das neue Bürgerkomitee die Schau "Stasi - Macht und Banalität", die seit August 1990 in der "Runden Ecke" steht - bis heute unverändert. Die Gänge mausgrau, das Mobiliar beige, die Ausstellungsstücke mit handgeschriebenen Infotafel auf ausgeblichener Wellpappe. Moderne Didaktik, multimediale Aufarbeitung - Fehlanzeige.
Aber warum ausgerechnet Leipzig? Warum gingen die Montagsdemos nicht in Gera los, in Erfurt, in Berlin? Die erste Montagsdemo kann sich tatsächlich Plauen im südlichen Sachsen in die Stadtgeschichte schreiben. Trotzdem bleibt der 9. Oktober 89 in Leipzig im Gedächtnis.
Historiker Weißbrodt sieht einen Grund in der Entfernung zu Berlin. Hier im städtischen Milieu fand sich eine breite Opposition - die sich auch nicht spalten ließ. Durch die Messe Leipzig kam immer wieder Einflüsse "von außen" in die Stadt; die Kontakte der oppositionellen Szene war zudem gut zu westlichen Journalisten. Aktivistin Sabine sieht das ganz bodenständig: Der "Leiptzscher" sei lange bereit zu leiden. Aber wenn das Maß mal voll sei ... Am Platz vor der Nikolaikirche steht heute ein runder Brunnen, über dessen Ränder das Wasser quillt. Für Sabine das passende Symbol für die Situation damals: "Die Leute hatten die Schnauze voll - bis zum Überlaufen."
Und als die Mauer fiel? Im Fernsehen habe sie es gesehen, sagt Sabine. Und ihre Stimme klingt belegt, vielleicht weil wir uns in den zurückliegenden zwei Stunden zu intensiv in die Vergangenheit begeben haben. "Ich konnte es nicht glauben!"