Von Heiko P. Wacker
Was einst als Kaufmannssiedlung an der Trave entstand, das wurde binnen weniger Jahrhunderte zur dominierenden Kraft an der Ostsee: Lübeck. Reich geworden durch den Handel, mächtig geworden durch geschickte Politik – und berühmt geworden durch sehenswerte Bauten wie das Holstentor, einem der Wahrzeichen der "Königin der Hanse", wie die Stadt im Norden respektvoll genannt wird. Man sollte es aber nicht nur bei einer Besichtigung des Holstentors belassen. Denn Lübeck hat viel mehr zu bieten. Alleine die Altstadt weiß mit zahllosen historischen Gebäuden zu locken, hinter denen sich unerwartete Gänge und Höfe verbergen.
Diese reinen Fußgängerbereiche stammen aus dem Mittelalter. In den kleinen, oft zweistöckigen "Buden" wohnten zumeist jene, die ein wenig weiter unten auf der sozialen Leiter angesiedelt waren. Mal waren dies kräftige Burschen, die im vorderen Straßenhaus beschäftigt waren und beim Warenhandel Hand anlegten, mal richteten wohlhabende Bürger Stiftungen ein, um Wohnraum für Bedürftige zu schaffen – und zugleich noch was fürs eigene Seelenheil zu tun.
Heute ist eine Bleibe in einem der zumeist liebevoll gepflegten Areale äußerst beliebt, ein lebendiges Sozialleben gibt es obendrein, wobei gerade die durch Bäume beschatteten Höfe ihren ganz eigenen Charme haben. Selbst als Besucher ist man hier durchaus willkommen, mehr als einhundert dieser Altstadtgänge finden sich, wobei man die Gänge und Höfe im Normalfall durch eine Passage im Straßenhaus ansteuert.
Die unzähligen Häuser der Handelsherren prägen bis heute das Stadtbild: Man war stolz auf den steilen Aufstieg als Handelsstadt, deren Karriere 1143 begann, gefördert durch Graf Adolf II. von Schauenburg und Holstein. Er erhob die Kaufmannssiedlung an der Trave zu einer deutschen Stadt, 16 Jahre später übernahm Herzog Heinrich der Löwe das Zepter, im Jahr darauf, 1160 also, kam es zuerst zur Verlegung des Bischofssitzes nach Lübeck, in der Folge zum Baubeginn der großen Kirchen: Dom, St. Marien und St. Petri waren stets mehr als Gotteshäuser.
Es waren Herrschaftssymbole einer selbstbewussten Bürgerschaft, die sogar das bereits zum Ende des 13. Jahrhunderts vollendete Hospital als gemauerte Machtdemonstration zu nutzen wusste: Die schlanken Türme dieses zu den weltweit ältesten bestehenden Sozialeinrichtungen zählenden Monuments ragen hinauf gen Himmel, stolze Wahrzeichen einer freien Stadt, der Kaiser Friedrich II. bereits 1226 das Reichsfreiheitsprivileg verliehen hatte. Die Stadtväter ließen sich dieses einzigartige Prädikat wohl ordentlich was kosten. Und auch das Holstentor – bis vor 20 Jahren zierte es zu DM-Zeiten die Rückseite des beliebten Fünfzigers – wurde von den Menschen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit sofort als ein Symbol städtischer Herrschaft verstanden.
Doch definierte sich Lübeck – das übrigens auf eine erste slawische Burganlage im Jahr 819 verweisen kann und 1138 wiederum von aufständischen Slawen zerstört wurde – nie alleine über hübsche Gebäude. Zentral war stets der Handel, der über weit verzweigte Netze lief, in deren Zentrum Lübeck stand. Von Bergen im Norden bis Brügge, von London im Westen bis Novgorod im Osten reichten schon im 13. Jahrhundert die Handelsbeziehungen; an diesen vier Orten wurden herausragende Kontore gegründet.
Zahlreiche Höfe bescheren der Altstadt ein malerisches Flair, ein lebendiges Sozialleben gibt es obendrein. Foto: Heiko P. WackerWie faszinierend die Welt der Hanse war, lässt sich im Europäischen Hansemuseum erleben, das rund 100.000 Gäste im Jahr zählt. Damit ist das im Mai 2015 offiziell eröffnete Museum das größte Themenmuseum zur 800-jährigen Geschichte der Hanse, der natürlich auch die Hauptausstellung gewidmet ist. Darüber hinaus macht das Museum immer wieder mit Sonderausstellungen von sich reden, etwa mit der Schau "Störtebeker & Konsorten", die bis Ende Juli zu sehen war.
21 Exponate und diverse Störtebeker-Memorabilien befanden sich in der Obhut der Historikerin Franziska Evers, Projektleiterin der Sonderausstellung. Das älteste Ausstellungsstück gab ein auf drei Monate beschränktes Gastspiel in Lübeck – und Evers ist noch immer stolz, dass damit ein Original aus dem 14. Jahrhundert gezeigt werden konnte, das"Hamburger Seeräuberprivileg", ausgestellt von Kaiser Karl IV. am 14. Oktober 1359. Das für die Projektleiterin bemerkenswerteste Exponat ist hingegen das rote Samtpantoffelpaar, "in Emden einst als originale Pantoffeln des Klaus Störtebeker ausgestellt", erklärt sie. "Genauere Untersuchen haben ergeben, dass sie aus einer späteren Zeit stammen. Aber sie sind ein guter Beleg dafür, wie wirkmächtig die Störtebeker-Legende ist. Es gibt etliche Orte, die behaupten, Störtebeker hätte dort gelebt. Auch angebliche Nachfahren tauchen immer wieder auf. Und das, obwohl über den Mann hinter der Legende kaum etwas bekannt ist." Franziska Evers schüttelt staunend den Kopf.
Um so mehr freut es sie, dass die schon in den Anfangstagen des Museums geplante Ausstellung nun endlich Realität hatte werden können, ist sie doch selbst vom "Stürz-den-Becher"-Störtebeker, noch so eine Legende, fasziniert: "Da ist tatsächlich diese Wirkmächtigkeit der Legende, die sogar bis in die Forschung reicht. Wir wissen praktisch gar nichts über ihn, es gibt nur wenige Quellen." Tatsächlich beginne die Legende schon 1435 mit einer Chronik des Dominikanermönchs Hermann Korner. Über die Jahrhunderte habe sie sich zu einem Mythos entwickelt, der darin gipfelt, dass Klaus Störtebeker noch ohne Kopf an zehn seiner Männer vorbeigerannt sein soll.
Interessant ist auch, wie sehr die Figur Störtebeker dem Zeitgeist gemäß zurechtgebogen wurde. So galt Störtebeker in der DDR als sozialistischer Rebell, der den Reichen nimmt und den Armen gibt; bis 1990 war Lübeck Grenzbahnhof, hier fuhren die Interzonenzüge Richtung Rostock. "Und bis heute noch pilgern die Menschen nach Hamburg, um den angeblichen Schädel von Störtebeker zu betrachten. Faszinierend!"
Wohl auch deshalb wurde der Ausstellung ein Untertitel mit Fragezeichen verpasst: "Piraten der Hansezeit?" Denn das Bild vom Piraten, der auf eigene Faust handelt – und jedes Schiff, das ihm unter die Nase kommt, überfällt – "das ist für die Zeit des Mittelalters und der frühen Neuzeit falsch", erklärt Evers. "Tatsächlich war Gewalt im Mittelalter bis in die Neuzeit ein legitimer Teil des Systems. Die, die dort gegeneinander kämpften, waren gut integrierte Kaufleute. Fühlte man sich nicht gerecht behandelt, zog man vor Gericht. Das hat wenig mit Enterkämpfen auf hoher See zu tun, die meisten Güterwegnahmen waren ohnehin durch das Fehderecht legitimiert."
Später gab es dann jene, die in der Ausstellung als "professionelle Gewaltunternehmer" vorgestellt werden, Männer also, die mit einem Kaperbrief im Namen eines Herrschers unterwegs waren und feindliche Schiffe aufbringen durften. "Es gab natürlich auch Regelverstöße, aber jemanden als ‚Piraten‘ zu bezeichnen, das diente nur der Diffamierung oder wurde als Rechtfertigung für das eigene Gewalthandeln herangezogen. Die Zeit der eigentlichen Piraten, die sich außerhalb der Rechtsordnung bewegten und zum eigenen Vorteil auf eigene Faust handelten, beginnt erst viel später um 1670."
Wie lebendig die Geschichte in Lübeck ist, das spürt man im Hansemuseum ebenso wie andernorts in der Stadt. Vor gut drei Jahrzehnten erkannte dies auch die Unesco an, die Altstadt und mehr als tausend Kulturdenkmale als Welterbe adelte. Wohin man auch spaziert auf diesem Hügel an der Trave, man wandelt auf historisch lebendigem Boden. Hier zu sein, das ist eine in mehrfacher Hinsicht lohnende Sache. Aber das wussten schon die Kaufleute des 12. Jahrhunderts.
Info: Die Ausstellung "Störtebeker & Konsorten" im Hansemuseum Lübeck kann virtuell besucht werden unter https://www.hansemuseum.eu/ausstellung/historie/#tab2