Die galluresische Küste im Nordosten der italienischen Mittelmeerinsel Sardinien ist von überwältigender Schönheit und bietet freie Sicht auf Korsika. Fotos: Ram Malis
Von Win Schumacher
Am sardischen Capo Testa fällt der Blick von gigantischen Granitfelsen hinüber zur korsischen Küste, ins möwendurchsegelte Blau. Im Frühsommer sind normalerweise mehr und mehr Ausflugsboote mit einer wachsenden Zahl an Urlaubern an Bord zwischen Sardinien und Korsika unterwegs. Nicht in diesem Jahr. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren sich die beiden Inseln nie so fern. Dabei verbindet die Bewohner der Gallura im Norden Sardiniens kulturell und geschichtlich viel mehr mit den Korsen als mit den Sarden.
Wann bald wieder Einheimische und Touristen zwischen den beiden Inseln unterwegs sein werden, ist bisher noch nicht abschließend klar. Italien will am 3. Juni wieder seine Grenzen für Touristen aus der EU öffnen. Frankreich plant ab Mitte bis Ende Juni die Einreisebeschränkungen zu lockern. Doch ob und wo Urlauber in diesem Sommer einen halbwegs unbeschwerten Italien- oder Frankreichurlaub verbringen können, ist wohl nirgendwo mit Gewissheit zu sagen.
Ist Sardinien ein sicherer Zufluchtsort für Italiensehnsüchtige? Die Insel war von der Pandemie bisher weit weniger betroffen als das Festland. "Wir haben bei der Ansteckungskurve die besten Resultate Italiens", verkündete Christian Solinas, der Präsident der Autonomen Region Sardinien, letzte Woche. Auf der Insel wurden nur noch vereinzelte Neuinfektionen registriert. Die Reproduktionszahl lag zuletzt bei unter 0,3. Einzig Kalabrien an der Stiefelspitze Italiens konnte ähnliche Daten vorweisen.
Sardinien schlägt für die anstehende Hauptsaison einen Sonderweg ein und will als einzige Region Italiens einen Gesundheitspass von Urlaubern verlangen (Stand Ende Mai). In welcher Form ein negativer Corona-Test die Einreise ermöglicht, war aber bis zuletzt nicht klar. Längst wollte die sardische Regionalregierung eigentlich festlegen, wie ab Juni die Einreise erfolgen soll. Gespräche mit dem Gesundheitsministerium in Rom waren bis zuletzt ergebnislos geblieben. Die Verzögerungen konkreter Informationen darüber sorgten bei den vom Tourismus abhängigen Sarden und Zehntausenden Urlaubern für Unmut.
Mit der Autofähre geht’s aufs sardische La-Maddalena-Archipel im Tyrrhenischen Meer.Auch die Korsen debattieren derzeit über eine gesonderte Einreiseregelung gegenüber dem Festland. In der Straße von Bonifacio, nur eine Stunde mit der Fähre von der einen Küste zur anderen, war in den letzten Wochen kaum ein Schiff unterwegs. In der Ferne verlieren sich im glitzernden Meer eine Reihe an felsigen Inselchen. Wie der knöcherne Panzer eines gigantischen Urkrokodils, das zwischen den Nationen dümpelt, ragen die Granithügel des Lavezzi-Archipels aus der Meeresstraße auf. Sie sind gemeinsam mit dem sardischen La Maddalena-Nationalpark Teil eines länderübergreifenden Meeresschutzgebiets. Mit fast 800 Quadratkilometern auf korsischer und über 200 auf sardischer Seite ist es eines der größten Europas. Im Juni beginnt auf dem Archipel normalerweise die Hochsaison. Dann brechen die Motorboote zu Dutzenden von Santa Teresa Gallura, Palau und Bonifacio zu den über das Meer verstreuten Inseln auf. Das Wasser vor ihren versteckten Sandbuchten leuchtet in einem karibischen Smaragdgrün.
Die Hafenstadt Bonifacio an der Südspitze der französischen Insel Korsika.Das Meeresreservat Bouches de Bonifacio vor der Südküste Korsikas ist ein wichtiger Nistplatz für Seevögel. Normalerweise haben es die Sturmtaucher, Krähenscharben und Korallenmöwen schwer, den zahllosen Bootsausflüglern aus dem Weg zu flattern. Delfine und Wale meiden die Gegend sonst im Hochsommer, wenn die Touristen mit ihren Heerscharen an Yachten und Motorbooten einfallen. Noch ist unklar, ob sie in diesem Jahr weitgehend unter sich bleiben werden.
Der La Maddalena-Nationalpark auf der italienischen Seite des Meeresschutzgebiets ist im Sommer sonst immer die Badewanne Sardiniens. Auf den Stränden liegt man dann Handtuch an Handtuch und vor den felsengerahmten Buchten ankert Boot an Boot. Gut möglich, dass in diesem Jahr alles anders sein wird. Aufgrund des eingeforderten Gesundheitspasses hofft Sardinien, vor allem die Urlauber anzuziehen, denen Hygiene- und Abstandsregeln besonders wichtig sind. Andernorts in Italien bleibt fraglich, ob die frühe Öffnung für Touristen nicht ein erneutes Aufflammen der Pandemie begünstigt. Kritiker fürchten zudem chaotische Zustände in den beliebtesten Urlaubsgebieten. Sardinien mag mit seiner strikteren Einreisepolitik das Risiko einer zweiten Corona-Welle auf der Insel zumindest eindämmen.

Im Frühsommer kann man man bisweilen von den Inseln des La Maddalena-Archipels aus noch immer die schneebedeckten Berge Korsikas sehen. Wanderern werden in diesem Sommer auf den Pfaden ins Inselinnere von Budelli, Razzoli, Santa Maria und Caprera sicher nur wenigen Menschen begegnen. Der Duft der Wildkräuter – Lorbeer, Myrthe, Schopflavendel und Thymian – gehört ihnen dann wohl ganz allein. Sowohl die Griechische Landschildkröte als auch die Breitrandschildkröte sind hier zu Hause. Zwei andere Inselbewohner, die Tyrrhenische Gebirgseidechse und die Zwerg-Kieleidechse, kommen nur auf Sardinien und Korsika vor. Zumindest die seltenen Bewohner des Meeresreservats dürften sich über die ungewohnte Stille auf ihren Inseln freuen.