Von Sarah Kringe
Noch 500 Meter. Schräg über mir sehe ich bereits das steinerne "Fuscher Törl", Ziel meiner heutigen Radtour auf 2424 Metern. Mein Freund Mathias hat es schon fast erreicht, ich muss mich noch einige Meter den Berg hinauf quälen, bis ich erschöpft von meinem Fahrrad steige. Mathias hat es sich bereits im Schatten des Törls bequem gemacht, genießt die gigantische Aussicht auf die Gipfel des Hohe Tauern Nationalparks, eingepackt in einen Fleecepullover und eine Windjacke. Es ist kalt hier oben.
Obwohl mein Freund meine Vorliebe für Alpenpässe mit dem Fahrrad nicht unbedingt teilt, hat er sich von mir überreden lassen, einen Teil der Großglockner-Hochalpenstraße zu erradeln. Die höchstgelegene Passstraße Österreichs, mitten durchs Hohe-Tauern-Massiv, mit Blick auf den Großglockner und die umliegenden Dreitausender, ist Pflichtprogramm für alle Fahrradfreaks. "Wie geht’s den Wadeln?" frage ich, als ich mich neben Mathias setze. Er zieht eine Grimasse. "Schau ma mal, ob ich morgen noch laufen kann."
An diesem sonnigen Vormittag hatten viele Radfahrer dieselbe Idee wie wir. Obwohl wir bereits um 7.30 Uhr an der Mautstelle in Ferleiten, dem offiziellen Startpunkt der Radroute, losgefahren sind, befinden wir uns in mannigfacher Gesellschaft: Und die radelt auf hochpreisigen Edelrennrädern oder mit elektrischer Unterstützung einfach an uns vorbei ...
Vor allem mein Freund sticht mit seinem Drahtesel aus der Masse heraus. Während ich auf meinem bestens gerüsteten Crossbike langsam aber stetig bergauf gekurbelt bin, wollte er es sich nicht nehmen lassen, mit seinem Retro-Rennrad von Puch die knapp 1300 Höhenmeter von Ferleiten zum Fuscher Törl zu bewältigen. Damit ist er wohl der einzige auf der Strecke, dessen Fahrrad noch über eine Zwölf-Gang-Rahmenschaltung verfügt – Anlass für viele Kommentare und irritierte Blicke anderer Fahrradfahrer: "Bist sicher, dass du oben ankommst?" und "Cooles Radl, aber was fährst du bloß für eine Übersetzung?" – keine Frage, Mathias ist heute der Hingucker auf der Straße.
Dass er seine Entscheidung bereut, wurde mir bereits zu einem frühen Zeitpunkt unserer Tour klar. Die uralte Schaltung macht ein halbwegs bequemes Bergauffahren unmöglich und ich beobachte in Folge, wie Mathias gezwungen ist, den größten Teil der 13 Kilometer zum Fuscher Törl im Stehen zu fahren.
"Jetzt geht’s nur noch bergab", mache ich dem erschöpften Bergfahrer Mut, während wir im Schatten rasten und zusehen, wie der Verkehr auf der Straße immer dichter wird. Das Fahrrad stellt die einzige Möglichkeit dar, die Hochalpenstraße umsonst zu befahren. Für motorisierte Vehikel wird eine saftige Maut fällig, was aber die wenigsten abzuschrecken scheint.
Motorrad nach Motorrad knattert an uns vorbei und weiter Richtung Heiligenblut, dem anderen Ende der Hochalpenstraße in Kärnten. Für uns ist am Fuscher Törl jedoch Umkehr, denn die Weiterfahrt nach Heiligenblut würde bedeuten, die gesamten 48 Kilometer und über 1500 Höhenmeter wieder zurück strampeln zu müssen – und auch meine Begeisterung hat letztlich ihre Grenzen. Einen Shuttlebus, der Fahrradfahrer, die die gesamte Strecke fahren wollen, wieder zurückbringt, gibt es hier leider nicht.
Am späten Vormittag schwingen wir uns erneut auf die Räder und auf der Hochalpenstraße herrscht bereits Hochbetrieb. Viele der Motorrad- und Autofahrer scheinen die Straße als ihre persönliche Rennstrecke zu betrachten und steuern mit knallendem Auspuff und quietschenden Reifen durch die Kehren, gefolgt von waghalsigen Überholmanövern. Mittlerweile ist mir klar, warum die Verwaltung der Hochalpenstraße Fahrradfahrern empfiehlt, sich vor neun oder nach 15 Uhr auf die Strecke zu begeben. Alles andere wäre schlicht zu gefährlich.
Als mir zum wiederholten Male in einer Kurve ein überholendes Motorrad auf meiner Fahrbahn entgegenkommt und mich zwingt, das Rad scharf nach rechts zu reißen, um nicht überfahren zu werden, bereue ich es fast ein wenig, dass ich an der Mautstelle nicht die "Unfallversicherung to go" abgeschlossen habe. Für Radfahrer bietet die Mautstelle in Ferleiten einige Services an, wie Schließfächer, Umkleiden, Duschmöglichkeiten – und eben eine Unfallversicherung für einen Tag. Für vier Euro beinhaltet sie eine etwaige Hubschrauberrettung und Entschädigungszahlungen bei Tod, Invalidität und kosmetischen Eingriffen. Was zuerst ein wenig übertrieben klingt, erklärt sich nach wenigen Kilometern Abfahrt von selbst.
Nicht die beste Abfahrerin, bin ich so sehr darauf konzentriert, mein Rad und mich sicher durch die Kehren zu steuern, dass ich beinahe an Mathias vorbeifahre, der in einer Kurve auf mich wartet und noch ein wenig die Aussicht genießt. Denn die ist nach wie vor atemberaubend und lohnt die Mühen allemal.
Ich kann zuschauen, wie meine Bremsbacken weniger werden!", verkündet mir mein Freund fasziniert, als ich neben ihm anhalte. Mit Steigungen zwischen neun und zwölf Prozent ist die Hochalpenstraße nicht nur für die Beine, sondern auch für die Bremsen eine Herausforderung. Meine Scheiben am Hinterrad geben bereits seit ein paar Kilometern ungewohnte Geräusche von sich und ich bin erleichtert, als wir nach weiteren zehn Minuten Abfahrt wieder auf den – mittlerweile völlig überfüllten – Fahrradparkplatz einbiegen.
Meine Begeisterung fürs Bergfahren hat durch diese Tour ins Herz der österreichischen Alpen trotz allem noch zugenommen und ich überlege bereits, zu welchem Pass ich Mathias als Nächstes überreden könnte. Dann allerdings lieber mit einem anderen Radl ...