Von Klaus Pfenning
Bremerhaven ist eine arme Stadt. Die Arbeitslosenquote liegt bei fast zwölf Prozent. Mehr als jeder fünfte Einwohner ist überschuldet, so häufig wie in keiner anderen deutschen Stadt. In manchen Vierteln können sogar 40 Prozent der Haushalte ihre Rechnungen nicht rechtzeitig bezahlen.
Und doch: Bremerhaven ist eine reiche Stadt. Rund um die alten Hafenbecken am Rande der City reiht sich ein spektakuläres Gebäude an das andere. Als Besucher glaubt man sich urplötzlich nach Hamburg, London oder gar in die Golfstaaten versetzt. Etwa vor dem Klimahaus, das wie ein riesiges Schlauchboot daherkommt und nachts funkelt wie ein Sternenhimmel über der Wüste. Oder, gleich nebenan, das Atlantic City Sailing Hotel, von außen unzweifelhaft eine kleine Schwester des legendären Burj Al Arab in Dubai.
Der scheinbare und doch offensichtliche Widerspruch erklärt sich aus der noch nicht einmal 200-jährigen Geschichte Bremerhavens. Gegründet 1827, hängen Aufstieg, Fall und Wiederauferstehen der Stadt stets eng mit der Schifffahrt zusammen. Zahlreiche Werften, Europas größter Fischereihafen und mehrere zehntausend US-Soldaten hatten über die Jahre einen gewissen Wohlstand geschaffen.
Bis die Krise der deutschen Schiffbauer einen Betrieb nach dem anderen in die Knie zwang, der Schiffscontainer immer mehr Packern und Staplern die Arbeit wegnahm, die Hochseefischerei in Deutschland praktisch verschwand und schließlich auch noch die Amerikaner abzogen. "Das war Krise, Krise, Krise", formuliert es der heutige Oberbürgermeister Melf Grantz. Die Arbeitlosenquote erreichte zum Jahrtausendwechsel deprimierende fast 25 Prozent, die Stadt war praktisch tot.
"Aber wir haben hier Stehaufmännchen-Qualitäten", zeigt sich nicht nur Tourismus-Managerin Dörte Behrmann kämpferisch. Die gebürtige Bremerhavenerin hätte es sich nach langen Jahren in Berlin und Hamburg wie viele andere nicht vorstellen können, wieder in ihre Heimat zurückzukehren. Dass sie es dennoch tat, verdankt sie dem früheren Stadtoberhaupt Jörg Schulz. Der nämlich hatte die Vision, die graue Maus an der Wesermündung zumindest in Teilen in ein maritimes Schmuckkästchen zu verwandeln. Mit ausgeprägtem Ehrgeiz, jeder Menge Überzeugungskraft und großem Durchhaltevermögen ist ihm dies auch gelungen.
Hunderte von Millionen Euro flossen auf die Brachen rund um die alten Hafenbecken, überwiegend gezahlt vom Land Bremen, vom Bund, von privaten Investoren. "Wir wollten aber kein Disneyland an der Weser", betont Behrmann. Stattdessen sah der Masterplan vor, sich nahezu ausschließlich an die maritime Tradition der Stadt anzulehnen. Dies ist gelungen. Wer vor 20 Jahren zum ersten Mal in die Stadt kam, der erkennt sie rund um den Alten Hafen, den Neuen Hafen und den Kaiserhafen heute kaum wieder. Spektakuläre Erlebnismuseen und moderne Hotels geben sich die Hand mit einer weitläufigen Marina, Bürokomplexen, Wohnungen und Restaurants. Der ungebrochene Trend zum Arbeiten, Wohnen und Erleben am Wasser hat Bremerhaven voll in die Karten gespielt.
Ein unbedingtes Muss ist der Besuch des Auswandererhauses, dessen Entstehung eng mit der Geschichte der Stadt verknüpft ist. Zwischen 1830 und 1974 wanderten mehr als sieben Millionen Menschen aus wirtschaftlichen, sozialen oder politischen Gründen über Bremerhaven in die Neue Welt aus. Die meisten von ihnen suchten ihr Glück in den Vereinigten Staaten, andere in Südamerika, Asien oder Australien. Bremerhaven war für lange Zeit der größte Auswandererhafen auf dem europäischen Kontinent. Der Besucher des Hauses durchlebt eine höchst authentische und zugleich spannende Zeitreise von den Tränen beim Abschied und dem Gang an Bord bis hin zur Einreise in New York.
Besonders eindrucksvoll: die nachgebauten Zwischendecks der Segelschiffe aus dem 19. Jahrhunderts, wo mehrere Hundert Passagiere der dritten Klasse auf engstem Raum und in katastrophalen hygienischen Verhältnissen mehrere Wochen lang zusammengepfercht waren. Berühmtester "Einwanderer" in Bremerhaven ist übrigens Elvis Presley, der von hier aus im Oktober 1958 seinen Militärdienst im hessischen Friedberg antrat.
Keine fünf Gehminuten entfernt, zieht das spektakuläre Klimahaus die Blicke magisch an. Bremerhaven liegt auf dem achten Längengrad Ost. Entlang dieses Grades – beziehungsweise im zweiten Teil entlang des 172. Längengrads West – reist der Besucher dank eines multimedialen Meisterstücks durch acht Klimazonen einmal um die Erde. Und erfährt dabei hautnah, wie sich Landschaften und Klima verändern. In erster Linie aber: was dies für das Leben der Menschen dort bedeutet.
Etwa für die Senner in der alpinen Schweiz, die Ziegenhirten im warmen Sardinien, die Tuareg im staubtrockenen Niger, die Bauern im feuchtheißen Kamerun. Oder auch für die Wissenschaftler in einer Forschungsstation in der Antarktis. Allein für dieses Klimahaus sollte man sich mindestens einen halben Tag Zeit nehmen.
Eine Fahrt mit dem Hafenbus gibt Einblicke in das Herz der Bremerhavener Wirtschaft. Von den ehemals zehn Werften sind nur noch drei übrig geblieben, und auch die haben ihren Mitarbeiterstamm deutlich eingedampft. Dafür wartet der Hafen mit einem anderen Superlativ auf: Mit zweieinhalb Millionen Fahrzeugen ist Bremerhaven der größte Verladehafen für Autos, die nach Übersee exportiert oder von dort importiert werden. In riesigen Parkhäusern warten 120.000 Stück auf ihre Weiterreise. Und: Mit einer Länge von fünf Kilometern ist der Kai im benachbarten Containerhafen das längste der Welt.
Der Fischereihafen im Süden der Stadt hat sich dagegen eher in eine Touristenmeile mit vielen Restaurants verwandelt. Im nahen Umfeld finden sich aber noch immer zahlreiche Fischverarbeiter und -lieferanten mit bekannten Namen wie Nordsee, Frosta oder Deutsche See. Krise hin, Strukturwandel her: bis heute ist Bremerhaven Deutschlands Fischhauptstadt. Kein Wunder, dass die einzige Großstadt an der deutschen Nordsee auch "Fishtown" genannt wird.
Auch die meisten anderen Sehenswürdigkeiten sind maritimer Natur oder orientieren sich zumindest daran. Das prägendste Gebäude des Stadtbilds, das Atlantic Sail City Hotel, hat die Form eines Segels, die Aussichtsplattform in 86 Metern Höhe die einer Schiffsbrücke. Von hier aus blickt man hinunter auf den "Zoo am Meer" mit seinen Seehunden, Seelöwen, Pinguinen und Eisbären. Nach Süden hin fällt der Blick auf das Deutsche Schifffahrtsmuseum und das Museums-U-Boot Wilhelm Bauer aus dem Jahr 1943. Ihrem maritimen Duktus bleiben die Bremerhavener sogar bei ihrem sportlichen Aushängeschild treu: Die erstklassigen Eishockeyspieler nennen sich konsequenterweise Fishtown Pinguins.